Vorträge und neuere Texte

 


  1. -Vortrag zur Eröffnung des Gutenberg-Lehrkollegs (2.2.2011, Universität Mainz)

  2. -Abschiedsvorlesung  (16.9.2011, Universität Mainz)

 

Weitere Vorträge und Texte

„Es gilt das gemeinte Wort“ (OTTO WOLTER)

 

 

Übersicht

 

Ansprache in Bad Kreuznach, 15.6. 2013, aus Anlass des 25-jährigen Bestehens der Migrantenseelsorge des Evangelischen Dekanats Bad Kreuznach

Migration und Bildung – für eine realistische Betrachtungsweise! Vortrag zur Abschlussveranstaltung des Projekts „Eltern finden die beste Schule für ihr Kind!“ am 20. Juni 2013 im Stadthaus Mainz

Dynamiken der Wohlfahrt – Soziale Arbeit im Aufwind und unter Druck. 8.10.2014 an der Universität Debrecen

Aufforderung zur Fortsetzung. 

Institut zur Förderung von Bildung und Integration – INBI. Beitrag zur Feier zum 15-jährigen Bestehen am 24.11.2015 in Mainz

 

Wider das Staatsversagen in der Flüchtlingspolitik. Podiumsdiskussion bei der Interkulturellen Woche 2015 in Mainz

Redebeitrag zur Kundgebung gegen die AfD am 21.11.15 in Mainz

Wie ethnozentrisch ist die Sozialpädagogik? Symposium zum 80. Geburtstag von Hans Thiersch an der Universität Lüneburg, 6.6.2015

Kinder, Flucht und Pädagogik. Vortrag bei der Fachtagung „Was brauchen Kinder nach der Flucht?“ am 21. April 2016 in Mainz

„Die jungen Männer aus Marokko von Köln“. Über einen neuen Topos der Flüchtlingsabwehr. Vorabendveranstaltung zum 1. Mai 2016, Mainz

Schulsozialarbeit und Integrationsaufgaben. Referat anlässlich der Eröffnungsveranstaltung „Soziale Arbeit und Lehramt – Konvergierende Professionen in der Schule?“ zum Magisterstudiengang Schulsozialarbeit der Katholischen Universität Eichstätt, 7.11.2016

Trump – der Repräsentant des 21. Jahrhunderts (Initiative für politisches Vor- und Nachdenken)

„Flüchtlinge: Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe“. Referat beim Jugendhilfetag 2017 in Düsseldorf in der Leitveranstaltung „Flüchtlinge: Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe“ (29.3.2017)

Die Familie der Migrantinnen und Migranten: Die Konfrontation der Einwanderungsgesellschaft mit ihrer Vergangenheit. Zur Verabschiedung von Walter Lorenz an der Freien Universität Bozen.  Oberbozen, Haus der Familie, 26.10.2017

Zur Gründungsgeschichte des Zentrums für Schul- Bildungs- und Hochschulforschung. Mainz, 7. Juni 2018

Thesen zur Migration und ihrem Kontext. 30.7.2018, Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz e.V.

Ansprache am 24.8.2019 am Trauerort in Mainz, Kapuzinerstraße

Vom Seminarsaal in die Mission – verschlungene Wege zur guten Arbeit. Zur Verabschiedung von Roland Graßhoff als Geschäftsführer des Initiativausschusses für Migrationspolitik in Rheinland-Pfalz am 5. September 2019 in Mainz

Freiwilliges Engagement für geflüchtete Menschen. Verschriftete Fassung eines Referats bei Eröffnung der Ausstellung „Miteinander für Integration – Das Ehrenamtsbündnis für Flüchtlingsarbeit stellt sich vor“ am 11. September 2020 im Außenbereich des „Haus des Erinnerns - für Demokratie und Akzeptanz“, Mainz.

 

Texte

Der Medizinisch-Industrielle Komplex

Krieg gegen die Kinder

Ein Tag im Dezember

Die vierte Macht unterwirft sich dem Imperium

 

 

 

Ansprache in Bad Kreuznach

 15.6. 2013, aus Anlass des 25-jährigen Bestehens der Migrantenseelsorge des Evangelischen Dekanats Bad Kreuznach

Die Religionen haben heute keinen guten Ruf. Sie werden vor allem zum Thema, wenn es um Kriege und Konflikte geht. In der öffentlichen Meinung wird ihnen das Potential zugeschrieben, Konflikte anzuheizen, Differenzen zu legitimieren, Auseinandersetzungen ideologisch aufzuladen. Der strategische Denker Samuel Huntington hat die ganze Welt nach religiös-kulturellen Mustern aufgeteilt und entsprechend den Krieg der Kulturen prognostiziert. Es war von Anfang an schwer zu entscheiden, ob es bei seiner These um eine Handlungsanweisung geht, die sich selbst erfüllt, oder um eine Warnung vor Zuständen, gegen die man präventiv vorgehen soll. Und selbst der vermeintlich so friedliche Buddhismus wird heute in einen ursächlichen Zusammenhang mit blutigen Zusammenstößen gebracht.

Angesichts dieser Debatten rücken die großen Leistungen der Religionen und Kirchen in den Hintergrund. Es ist die Sorge für die Armen, die Unterstützung der Schwachen, die Hilfe für die, die am Rande der Gesellschaft stehen, die Integration derer, die von Ausschluss bedroht sind, und derer, die mit Gewalt Probleme lösen wollen. Gerade in dieser Gegensätzlichkeit des Einsatzes, nämlich dem Engagement für die Opfer einerseits und dem Bemühen andererseits, Täter von ihren Taten zurückzuhalten, wird die Kraft des religiösen Engagements für den Frieden der Menschen untereinander sichtbar.

Wenn man die christliche Botschaft zusammenfassen möchte, dann sind Samariterdienst und die Stiftung des Friedens wesentliche Aspekte. Und diesem Dienst widmen sich die Kirchen in Deutschland auch in hohem Maße. Nicht nur weil es für den Staat billiger kommt oder er die Leistungen mit Entgelten honoriert, sind Diakonie und Caritas die praktische Seite der Kirche in der Gesellschaft. Dazu zählt auch immer schon die Sorge für die Fremden und das Engagement für eine menschliche Ausgestaltung ihrer Lebensbedingungen. Die Kirchen haben als erste die Beratung und Unterstützung für die Gastarbeiter gesichert, sie haben sich für deren menschenwürdige Unterbringung eingesetzt, sie haben sich um die Bildung der Kinder und die Integration der Frauen gekümmert, sie haben die Interkulturellen Wochen mit aus der Taufe gehoben und schließlich gegen die verschiedenen Verschärfungen des Ausländer- und Asylrechts gekämpft. Ja, es waren Kämpfe und nicht immer nur wohlmeinende Erklärungen und viele kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben ihr ganzes Leben in den Dienst an den Armen gestellt. Dies auch deshalb, weil es eben nicht nur um den Kampf gegen materielle Armut, sondern auch um Verzweiflung und Orientierungslosigkeit, um Ortlosigkeit in dieser Welt geht.

 

Ich konnte als Jugendlicher mit dem Kirchenlied „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh, mit mancherlei Beschwerden, der ewigen Heimat zu“ nicht viel anfangen. Ich habe mich mehr mit der U-topie, also der Ort-losigkeit eines naiv visionären Denkens befasst. In der Konfrontation mit Migrationsschicksalen begegnet uns aber konkret die existenzielle Bedeutung eines solchen Lebensgefühls. Weniger noch bei den kräftigen jungen Männern, die ihr Armutsschicksal ändern wollen, als vielmehr in den Erzählungen der alt gewordenen Migranten oder der unerträglich lange nur geduldeten Flüchtlinge, die in nostalgischer Erinnerung an die Kindheit sich mit dem Ganzen ihres Lebens konfrontiert sehen. Und für dieses Leben keinen guten Schluss zu finden scheinen.

Eines der wichtigsten Felder kirchlichen Engagements ist heute die Flüchtlingsarbeit. Die Kirchen setzen sich für die ein, die angeblich für nichts nütze sind. Die Gesellschaft will nur die haben, die für sie von Nutzen sind. Flüchtlingsarbeit heißt heute aber nicht nur praktische Hilfe zu leisten, sondern vor allem auch, die Zusammenhänge verstehen lernen, die zur Flucht führen. Es ist nicht nur so, dass wir zu wenig Barmherzigkeit üben. Es ist auch so, dass wir zu wenig analysieren und daraus die konsequenten Schlüsse ziehen. Ich möchte das an einem kleinen Beispiel verdeutlichen:

Die globalen Wanderungsbewegungen folgen in zentralen Linien den Wegen des Geldes. Das zeigt sich am Verhältnis der armen und reichen Länder.

Es ist nicht so, dass wir bei der Entwicklungshilfe zu wenig geben. Es ist vielmehr so, dass wir zu viel nehmen. Denn nach den Berechnungen des „Internationalen Netzwerkes Steuergerechtigkeit“ fließt aus den sogenannten Entwicklungsländern ein riesiger Strom Geld in die Steueroasen und die reichen Länder der Welt. „Die Entwicklungsländer verlieren durch illegale Finanzströme jährlich ein Vielfaches dessen an Kapital, was sie durch öffentliche Entwicklungshilfe erhalten. Allein durch Preismanipulationen von Konzernen verlieren die armen Länder jährlich 160 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen; das ist deutlich mehr als sie an Entwicklungshilfe erhalten.“ (Markus Meinzer: Der neue Kolonialismus, SZ 12.4.2013, S.2) Auch die Kooperation zwischen den reichen Ländern und den Reichen der armen Länder trägt zur Aufrechterhaltung dieser ungerechten Ordnung bei. Im sogenannten „Offshore“-System arbeiten Heerscharen hoch bezahlter Anwälte, Banker und Wirtschaftsprüfer für die Superreichen, für die Geldwäscher und Konzerne, damit diese die komplexen Fluchtwege für ihr Geld nutzen können. Deutschland hat 2009 die Steuerkooperation mit Entwicklungsländern eingeschränkt. Davon profitieren wir. Schließlich liegen 1,3 Billionen Euro ausländisches Geld auf deutschen Konten. Muammar al-Gaddafi hatte sechs Milliarden in Deutschland angelegt. Warum sollten die Menschen nicht diesen lukrativen Strömen zum Reichtum folgen? Warum soll der Tellerwäscher nicht etwas von dem haben wollen, was der Geldwäscher im Überfluss besitzt und protzig in den Jachten der Luxushäfen zur Schau stellt – gerade im Mittelmeer, wo gleichzeitig so viele Flüchtlinge ums Leben kommen? Tatsächlich ist es, und das ist das Erstaunliche, nur weniger als 1 Prozent der Menschen, die aus der Not in das Reich des Reichtums fliehen. Würde man die Steueroasen, die eigentlich Schattenwirtschaftsplätze sind, einhegen, dann könnte die wirtschaftliche Entwicklung der armen Länder alle diese Menschen an sich binden. Zwei Prozent der Weltbevölkerung leben heute nicht in ihrem Heimatland. Und nur ein Bruchteil von ihnen sind Flüchtlinge. Und nur ein Bruchteil von ihnen wiederum erreicht die reichen Länder. Aber im Jammern über ihren angeblich gefährdeten Reichtum stehen diese Länder an der Spitze. In Wahrheit finanzieren die ärmsten Länder unseren Zweitwagen und unseren Espressoautomaten.

 

Die theologischen Begründungen des kirchlichen Engagements für die Fremden können sich auf viele Passagen der Bibel beziehen, und es gibt im Grundsatz keinen Streit über diese vorrangige Aufgabe des Christenmenschen. Ich möchte zum Abschluss meiner Rede eine Textstelle zitieren, die sich bei Lukas im 6. Kapitel findet und bei Matthäus so heißt:

"Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst" (Mt 7,1-5).

 

Diesen Text kann man lesen als eine Aufforderung zum Abbau von Vorurteilen. Das ist richtig und notwendig. Insbesondere dann, wenn Vorurteile sich verfestigen, gegen empirische Argumente immun sind und sich mit negativen Gefühlen aufladen, sind sie Grundlage von Aggressionen. Aber dieser Text bedeutet auch, dass der aggressiv auf die Fehler des Anderen Starrende seine eigene Würde verliert. Seine Würde, die er als Mensch mit Recht zu beanspruchen glaubt. Denn er misst den anderen an einem Kriterium, das er für sich selbst nicht gelten lassen will. Die Wechselseitigkeit des eigenen Anspruchs und des Eintretens für die Würde des Anderen – das ist die Botschaft dieser Textstelle. Dahinter steht gleichzeitig eine demokratische Ordnung, wie sie in unserer Verfassung zum Ausdruck kommt und die uns deutlich macht, dass unsere Würde als Menschen nur so weit reicht, wie wir die Würde eines jeden anderen anerkennen und zur Geltung bringen.

Die eigene Borniertheit und Verbissenheit in der Ablehnung der Anderen, heute zum Beispiel des Islam, zu erkennen und sie zu mindern, ist eine genuin christliche Aufgabe. Dabei geht es gerade nicht um Selbstbehauptung, sondern um Selbstbegrenzung, weil wir wissen, dass unser Wort oder unsere Tat nicht mit dem übereinstimmt, was wir zu beabsichtigen glauben. Es liegt immer eine zumindest kleine Differenz zwischen dem, was wir meinen, und dem, was wir tun oder sagen. „Selbstironische Fehlerfreundlichkeit“ hat Paul Mecheril einmal für das interkulturelle Lernen gefordert. Sie ermöglicht uns einen immer etwas spielerischen Umgang mit der Welt. Wir sind ihr dann nicht verfallen. Möglicherweise hat der Umgang mit dem Fremden bzw. mit Befremdung deshalb auch etwas zu tun mit dem Glauben. Jedenfalls kann er uns frei machen für die Sensibilität gegenüber den Splittern und Balken. Und weil der Satz mit den Splittern und Balken auch für mich gilt, schließe ich, bevor mir Bretter vor den Kopf wachsen.

 

 

 

Migration und Bildung – für eine realistische Betrachtungsweise!

Vortrag zur Abschlussveranstaltung des Projekts „Eltern finden die beste Schule für ihr Kind!“ am 20. Juni 2013 im Stadthaus Mainz

 

Nach Jahrzehnten heftiger öffentlicher Diskussion kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Bildung wichtig ist. Die öffentliche, insbesondere die politische Diskussion bringt Bildung dabei ständig in Zusammenhang mit dem Humankapital. Das ist freilich etwas anderes als die humane Bildung oder gar ein humanes Kapital. Auch den Ausländern, den Migranten oder den Menschen mit Migrationshintergrund wird empfohlen, ihre Lage in der Gesellschaft durch Bildung zu verbessern. Diese Empfehlung hat den politischen Charme, dass sie immer richtig ist, den guten Willen dessen manifestiert, der sie ausspricht, und dass man im Übrigen alles andere dem Migranten selbst überlassen kann. Denn er soll durch seine Anstrengung etwas zum Besseren wenden. Und wenn er das nicht erreicht, dann tut es demjenigen, der die Empfehlung ausspricht, natürlich leid. Die Bildungsdiskussion produziert also alltäglich verwertbaren Sinnzusammenhang, sichert Gesellschaftsbilder ab und befördert die Durchsetzung der dominanten Interessen.

 

Diesen Gedankengang möchte ich in meiner ersten These zuspitzen:
Mit dem ständigen Verweis auf den Bildungsmisserfolg der Kinder mit Migrationshintergrund wird eine politische Instrumentalisierung der Migranten vollzogen, die der ökonomischen Instrumentalisierung nachfolgt.

Immer wieder wird die Bildungssituation der Migranten als „dramatisch“ bezeichnet. Die schulische Selektion im Bildungssystem wird damit als Problem benannt, aber zugleich auf eine Personengruppe projiziert. Deshalb kann sich die Kritik an der sozialen Selektivität des Bildungssystems nicht ernsthaft, das heißt folgenreich entfalten. Denn ernsthaft betroffen von der selektiven Wirkung seien ja vor allem die Ausländer. Wenn ca. 15 % der ausländischen Abgänger aus dem allgemeinbildenden Schulwesen in Deutschland keinen Abschluss erreichen, so handelt es sich um ca. 16 000 Jugendliche. Die ca. 6,5 % der deutschen Schulabgänger machen eine Gruppe von ca. 52 000 Schülern aus – mit einem männlichen Schwerpunkt. Die Chancen, auf qualifizierte Weise in die Gesellschaft „integriert“ zu werden, sind für beide Gruppen gleichermaßen eingeschränkt. Die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die kleinere Gruppe mit dem höheren Prozentanteil belastet das Bild der Migranten und stabilisiert Vorurteile – gerade bei denen, die, wie im Handwerk, über die Einstellung von Auszubildenden entscheiden. Die Folge ist bekannt: Auch bei gleichem Abschluss und bei gleichen Noten haben ausländische Schulabgänger deutlich schlechtere Chancen. Die Kritik an der sozialen Selektivität des Schulwesens wird de-legitimiert, weil angeblich vor allem „die Ausländer“ betroffen sind.

Dies nenne ich die politische Instrumentalisierung des Ausländers für Herrschafts- und Statusinteressen. Im Hamburger Volksentscheid haben sie sich ausgetobt. Schon nach der ersten PISA-Studie haben manche versucht, „die Ausländer“ aus der Statistik des allzu bescheidenen deutschen Bildungserfolges „herauszurechnen“. Auch wenn solcher Unsinn nicht ständig wiederholt wird, so hat sich das Denkmuster doch tief eingegraben und wird an den Stammtischen des Bildungsbürgertums zelebriert. Denn PISA stellte eine Kränkung dieser deutschen Tradition dar.

 

Das Bildungsbürgertum pflegte aber nicht nur ein nationales Muster, sondern kultivierte auch einen schichtspezifischen Habitus, der in der Verachtung der unteren Klassen seinen Ausdruck fand. Der Umstand, dass die Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere aber die Ausländer in Deutschland zu einem erheblichen Anteil die Gesellschaft unterschichtet haben, gibt dem alten Muster neue Nahrung.

Zugleich aber muss sich die Analyse der „Bildungsarmut“ der Migranten neu orientieren und auf die objektive Lage in der Gesellschaft eingehen. Deshalb lautet meine zweite These:

Nicht der Migrationshintergrund ist die Ursache für Bildungsbenachteiligung, sondern die Klassenlage, also die Armut der Migranten.

Armut ist grundsätzlich die Folge der Lohnarbeiterexistenz. Ohne sozialstaatliche Absicherungen, ohne materielle Leistungen für Kinder und ihre Familien, ohne Sozialschutz der Kranken und Alten ist Armut unmittelbar mit dem Lohnarbeiterstatus verbunden. Deshalb ist der Abbau von Sozialleistungen, die Belastung mit Zuzahlungen bei elementaren Sicherungsleistungen, die Kürzungen der Renten und die Senkung der Leistungen im Falle von Erwerbslosigkeit mit einem Übergang in die Armut direkt verbunden, und zwar immer dann, wenn das Beschäftigungsverhältnis schon eine Gradwanderung am Rande der Armut war. Es ist die fragwürdige Leistung von Hartz IV, dass es den Prozess der Verarmung für alle Erwerbstätigen spätestens nach einem Jahr unübersehbar herstellt und sichtbar macht. Das langfristige Sinken der Nettolohnquote und die dauerhaft verbreitete Erwerbslosigkeit drücken den Prozess strukturell aus.

Nun ist Migration in den meisten Fällen auch ein Prozess der Herstellung von „reiner“ Lohnarbeiterexistenz. Denn die Ressourcen der Subsistenzwirtschaft werden zurückgelassen, die Ersparnisse werden häufig durch die Kosten für die Wanderung aufgebraucht. Deshalb ist die Erwerbsarbeit auf besondere Weise die einzige Quelle für Einkommen und Absicherung – außer natürlich der verwandtschaftlichen Einbindung und Unterstützung. Diese soll aber nicht romantisch verklärt werden - sie ist oft auch ein Zwangsverhältnis, aus dem sich die einheimische Bevölkerung, wenn es irgendwie geht, gelöst hat.

Die Menschen mit Migrationshintergrund sind also nicht zufällig ärmer als die Bio-Deutschen. Schon die ersten Armutsberichte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zeigen, dass 60% der Ausländerhaushalte mindestens einmal in 9 Jahren unter die Armutsgrenze absinken. Sie sind nicht dauernd, aber immer wieder arm. Heute ist die Armut differenziert beim Migrationshintergrund „Haushalte mit Migrationshintergrund“ sind zu 26 – 28 % arm, bei denen ohne den Hintergrund liegt bei Quote bei 11 bis 12 %. Bei den Ausländern allein macht die Quote der Armen ein Drittel aus. Und bei ausländischen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren liegt die Armutsquote bei 41,2% - ein Datum aus dem Zweiten Integrationsindikatorenbericht. Auch sind 17% der erwerbstätigen Ausländer arm. Und die Hälfte der alleinerziehenden Ausländer lebt unterhalb der Armutsgrenze. Schließlich führen auch die Sozialleistungen bei einem Fünftel der sie beziehenden Ausländer zu Armut.

Wenn man nun die Quote der armen ausländischen Kinder und Jugendlichen von 41,2 % in Relation setzt zu den 15 % der Schulabgänger ohne Abschluss bekommt man ein realistisches Bild und eine Vorstellung davon, mit welcher Anstrengung gerade ausländische Kinder und Jugendliche versuchen, über Bildung aus ihrer Armutslage heraus zu kommen. Doch dies gelingt auf Dauer nur begrenzt, denn auch ein guter Realschulabschluss ist bei Bewerbern auf dem Ausbildungsmarkt nur begrenzt mit Chancen verbunden, wenn sie den „falschen“ Pass haben.

Was immer im Bildungssystem geschieht: es kann den Bildungsanspruch der ausländischen Eltern und die Anstrengungen ihrer Kinder nicht klein kriegen. Auf dem Markt muss neue Ungleichheit hergestellt werden, obwohl er doch das Image der reinen Leistungsbezogenheit kultiviert. Doch die Analyse der geschlechtsspezifischen Ungleichheit hat schon überdeutlich gezeigt, dass diese Barrieren auf dem Markt, und dann besonders auf dem Weg zur Verfügungsmacht, nicht beseitigt sind. Und bei Ausländern und anderen Menschen mit Migrationshintergrund sind sie ebenfalls besonders ausgeprägt. Die neuen deutschen Medienmacher haben das nachdrücklich gezeigt.

 

Diese Überlegungen zwingen zu einer dritten These: Die Fokussierung auf Bildung, auf die Lösung von Benachteiligung durch Bildung kann auch ein Beitrag zur Stabilisierung der Benachteiligung sein. Zu einfach ist die OECD-Parole von der Überwindung von Armut und der Ermöglichung von sozialem Aufstieg durch Bildung. Die Daten zum Studium von Arbeiter- und Akademikerkinder zeigen heute, dass die benachteiligenden Relationen nicht abgebaut, sondern eher verstärkt wurden. Auch ist die Rede von dem großen Wert der „hohen“ Bildungsabschlüsse nur eine begrenzte Charakterisierung der Wirklichkeit. Gefragt ist nach wie vor das große Heer der flexiblen Menschen, die jeden Job annehmen (und als Hartz-IV-Bezieher auch annehmen müssen), die nicht auf der Qualität von Handwerklichkeit bestehen, wie Richard Sennett analysiert hat, die leicht in den Arbeitsmarkt inkludiert werden und ebenso leicht wieder exkludiert werden können. Sie müssen zwar eine gewisse allgemeine Handlungsfähigkeit haben, aber ansonsten kommt es nur auf Fertigkeiten an. Die ständige Rede von Kompetenzen, die etwas Gehaltvolles auszudrücken scheint, verdunkelt nur den Prozess, dass heute die Flexibilität das wichtigste Arbeitnehmermerkmal darstellt.

Die Vorenthaltung von habitueller Gleichheit ist zu einem zentralen Mechanismus der Statussicherung geworden. Auch wenn die Staatsbürgerschaft erworben wurde, ist die Erfahrung, dass habituell Gleichheit verweigert wird, mit einer tiefen Kränkung der integrierten Menschen mit Migrationshintergrund verbunden. Integration soll nicht stattfinden. Paul Mecheril hat diesen Prozess schon vor einiger Zeit untersucht.

Gleichheit entsteht durchaus auch durch Bildung. Aber sie wird auch durch die Bildung und vor allem durch die Bildung eines Habitus aufrechterhalten. Die Ungleichheit hat dagegen ihre zentralen Quellen in der Verfügung über Eigentum auf der einen Seite und die konstitutionelle Unfähigkeit auf der anderen Seite, über die Bedingungen der Erwerbsarbeit selbst entscheiden zu können. Angesichts von Zwangsarbeit, Minijobs, Ein-Euro-Arbeitsgelegenheiten, Vertragsbefristungen und Leiharbeit zu miserablen Bedingungen wird dies wieder unübersehbar deutlich. Welche Barrieren die 85% der ausländischen Schulabgänger mit einem angeblich die Integration sichernden Schulabschluss überwunden haben im Wissen um diese Aussichten und die Erfahrung der Einkommensbedingungen ihrer Eltern, das wird in einer realistischen Wahrnehmung der tatsächlichen Lebenslage ersichtlich.

Ich fürchte, dass die Lebenswege der schulerfolgreichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht das halten, was ihnen die Bildungseuphoriker versprechen.

 

Das einzig Verlässliche scheint mir, dass die widersprüchlichen Erfahrungen einen Bildungsprozess ermöglichen, in dem die Realität nicht verdrängt werden braucht. Das ist sicherlich schmerzlich, aber realistisch. Vor allem aber ist ein politischer Bildungsprozess möglich und notwendig, der die Bedingungen der eigenen Bildung verarbeitet. Manche schlagen aus dieser Erkenntnis den Weg des instrumentellen Umgangs mit Bildung ein, das heißt, sie fügen sich in das dominante Verständnis von Bildung als Konkurrenzinstrument ein. Insofern ist die Integration recht leicht. Andere haben es nicht einfacher, wenn sie die politischen Einsichten in die Logik der Ungleichheit in solidarisches Handeln umsetzen. Einfacher ist aber Bildung wohl nicht zu erreichen.

 

Es geht aber, das ist meine vierte These, auch um die Bildung der Einheimischen. Das meine ich wie im Hinblick auf die Menschen mit Migrationsgeschichte auch in zweierlei Hinsicht. Es geht um die schulische Bildung mit Zertifikat für die armen deutschen Kinder und Jugendlichen, die benachteiligt sind. Und es geht vor allem um die Bildung der Kinder aus Familien, die sozial absinken oder abgesunken sind. Nicht der Migrationshintergrund oder die deutsche Staatsbürgerschaft oder sonst ein zufälliges Merkmal von Personen kann als Begründung für die Förderung herangezogen werden. Die Ungleichheit in unserer Gesellschaft kann in begrenzter Weise durch Nachteilsausgleich im zentralen System zur Vergabe von Sozialchancen, und das ist die Schule, abgebaut werden. Ungleichheit wird aber in der Gesellschaft insgesamt, und dabei insbesondere in den Produktionsverhältnissen hergestellt. Darauf müssen die Kritik und die politische Aktivität bezogen bleiben. Die pädagogische Aktivität richtet sich auf den Nachteilsausgleich im Bildungssystem.

Sie richtet sich aber auch auf den Prozess, den wir mit dem anspruchsvollen Begriff der Bildung bezeichnen. Es geht dabei um Selbstbildung, denn bilden kann sich der Mensch nur selbst und er kann von anderen dazu angeregt oder aufgefordert werden. Die Einheimischen bilden sich also in der Auseinandersetzung mit der Migration und in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Reaktionen auf die Migration. Familien, die sozial absinken, stehen stärker als andere in der Gefahr, ihre widrigen Lebensumstände den Eingewanderten zuzuschreiben. Sie folgen dabei der Indoktrination durch eine aggressive Abwehr von unerwünschten Zuwanderern. Bildung würde aber eher darauf hinauslaufen, das eigene Schicksal und das der Migranten als Ergebnis derselben Ursachen zu verstehen. Das beobachten wir auch, aber nicht so oft wie wir es für nötig halten. Wir beobachten aber viel zu oft den Rassismus in Wort und Tat. Und der kommt nicht primär aus den sozial abgesunkenen Schichten, sondern aus den politischen Parolen, mit denen sie abgelenkt werden. Bildung der Einheimischen bedeutet also zu erkennen, dass Solidarität der Menschen miteinander das Fundament der Demokratie ist. Denn nur in ihr kann auf der Grundlage der Verfassung der eine Mensch nicht gegen den anderen Menschen ausgespielt werden. Und Würde verdient, wer die Würde des Anderen, insbesondere des Fremden, achtet. Diese Einsicht motiviert wiederum zu pädagogischen Aktivitäten, eben zur Unterstützung all derer, die benachteiligt sind. Und wie das geht, das haben Sie in dem Projekt „Eltern finden die beste Schule für ihr Kind“ gezeigt.

 

 

Dynamiken der Wohlfahrt – Soziale Arbeit im Aufwind und unter Druck

8.10.2014 an der Universität Debrecen

 

Über Dynamiken der Wohlfahrt in 30 Minuten sprechen zu wollen gleicht dem Flug des Ikarus. Steigt man zu weit auf, verbrennt man sich die Worte an der Abstraktheit der Theorien. Fliegt man zu weit unten, versinkt man im Wasser der vielen Formen von Wohlfahrt. Also versuche ich in der Mitte zu bleiben. Vielleicht hat es auch Ikarus wenigstens 30 Minuten lang geschafft.

„Wohlfahrt“ ist keine feste Größe, über sie wird politisch gestritten und in einem diskursiven Prozess entschieden. Die Beteiligten haben natürlich ungleiche Chancen, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen. Diese Vorstellung eines Diskurses über Wohlfahrt geht über funktionalistische Theorien hinaus und sucht nach den normativen Gründen für Wohlfahrt.

 

Geschichtliche Aspekte

Der Funktionalismus kann die sozialstaatlichen Eingriffe in die Gesellschaft als Notwendigkeit erklären, die sich aus der Industrialisierung und Verstädterung im 19. Jahrhundert beginnend ergeben hat. Soziale Politik bearbeitet die Risiken der Lohnarbeiterexistenz wie Krankheit, Alter, Invalidität, familiale Reproduktion. Die Systeme der Sozialversicherungen sind in europäischen Staaten recht stabil entwickelt, wurden intensiviert und auf weitere Risiken ausgedehnt. Die Sozialpolitik im Produktionsbereich bezog sich auf Arbeiterrechte im Betrieb und auf Arbeitsmarktpolitik und ist in den verschiedenen Ländern unterschiedlich entwickelt. Die europäische Integration und Freizügigkeit haben diesen Bereich unter Druck gesetzt. Schließlich gibt es eine dritte Sozialpolitik, die sich auf den Reproduktionsbereich bezieht. Hier geht es um Bildung und Erziehung, um Pflege und medizinische Versorgung, um soziale Hilfe in allen Notlagen.

Während wir diese Sicherungen der Wohlfahrt in allen Ländern Europas vorfinden, ist das Ausmaß der Realisierung recht unterschiedlich. Diese Unterschiede lassen sich historisch erklären. Dabei wird die Frage wichtig, wie am Anfang der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung das soziale Problem in dem jeweiligen Land bestimmt wurde (Kaufmann 2003, S. 33). In der Folge haben sich in Europa recht unterschiedliche Formen des Wohlfahrtspluralismus entwickelt. Überall sind die Akteure Staat und Markt, gesellschaftliche Organisationen und private Haushalte beteiligt. Der jeweilige Anteil ihrer Aktivitäten ist sehr unterschiedlich.

Über das Verhältnis der Akteure und über das Ausmaß, wie Wohlfahrt realisiert werden soll, entscheidet der nationale Diskurs – dass sich dies im Prozess der europäischen Integration und der Globalisierung nicht mehr halten lässt, wird noch zu besprechen sein. Bedeutsam ist für die weitere Eingrenzung des Themas, also um mich dann auf Soziale Arbeit konzentrieren zu können, ein weiterer Aspekt: „Wohlfahrt“ ist zunächst eine „Problemformel öffentlicher Kommunikation …, die sich auf die Vermittlung zwischen den partikulären Formen der Lebensführung und dem Zustand bzw. den Entwicklungsperspektiven eines Gemeinwesens bezieht“ (S. 227). Es macht also die Diskussion über das richtige Ausmaß der Wohlfahrt schwierig, weil immer eine Verknüpfung zwischen den kollektiven Aktivitäten und den Individuen und ihren Verhaltensweisen hergestellt wird. Wer verdient es also, dass ihm durch den Staat geholfen wird? Welche Voraussetzungen muss der Einzelne erfüllen, damit ihm institutionelle Unterstützung zuteilwird?

Sofort erinnern wir uns an die Mechanismen der Diskreditierung oder Privilegierung von Personengruppen. Den würdigen Armen wird das Recht auf Hilfe zugesprochen, den unwürdigen Armen wird es abgesprochen. Verachtete Gruppen wie Ausländer, Sinti und Roma oder andere Minderheiten sollen gar keine Hilfe erhalten oder sie sollen zumindest streng kontrolliert werden. Heute lauten die Fragen aber auch: Sollen alte Menschen tatsächlich alle medizinischen Leistungen erhalten? Müssen Verstöße gegen Vorgaben der Arbeitsverwaltung nicht wesentlich schärfere Sanktionen nach sich ziehen? Für welche Mitglieder der Familie sollen die Leistungen der Sozialversicherungen bereitstehen? Müssen Kinder tatsächlich mit ihren berufstätigen Eltern krankenversichert sein?

 

Normative Grundlagen

Diese Fragen verweisen nicht nur auf den systematischen Begriff der Wohlfahrtsproduktion. Sie sind auch typisch für eine Zeit, in der die Legitimität des Sozialstaats schon länger in Frage gestellt wird. Auf jeden Fall zeigt sich bei einer solchen Bestimmung von Wohlfahrt und Wohlfahrtsproduktion die Bedeutung des Worts „Sozial-Politik“, denn mit sozial wird die Beziehung der Menschen zu ihrer Gesellschaft und zum Staat angesprochen – und umgekehrt. Ebenso verhält es sich bei dem Begriff „Sozial-Pädagogik“.

 

Über lange Zeit war in Europa eine Überzeugung wirksam, die sowohl dem Bürgertum und der Arbeiterbewegung eigen war und die sich aus Aufklärung und christlichen Anschauungen nährte. Es war die „Überzeugung vom Eigenwert jedes Menschen und die Perspektive eines friedlichen Zusammenlebens in Freiheit und Gleichheit“ (Kaufmann 2003, S. 38), wie es Franz Xaver Kaufmann formulierte. Diese „soziale“ Idee hat den Kapitalismus manchmal und etwas gebändigt, vor allem hat sie ihm genützt, hat nationale Loyalitäten gefördert und soziale Sicherheiten – auf unterschiedlichem Niveau selbstverständlich – entstehen lassen. Thomas Humphrey Marshall hat diese Dynamik in seiner Theorie der citizenship zusammenfassend interpretiert. (Marshall 1992). Es geht also um decommodification in dem Sinne, dass der Mensch nicht zur Ware auf dem Arbeitsmarkt und anderen Märkten verkommt und sein Verhältnis zur Umwelt selbstbestimmt gestalten kann. Dazu muss ihn der Staat, als der allmächtige Akteur, mit Rechten ausstatten. Wenn der Staat dies nicht mehr kann oder will, weil er von anderen Mächten in die Enge getrieben wird oder sich einer nationalistischen Idee verschreibt, dann gibt es eine Krise des Sozialen.

 

Der Sozialstaat

Zunächst aber muss man daran erinnern, dass nach dem 2.Weltkrieg in Europa eine Phase des Wirtschaftswachstums erreicht wurde, die auch durch Wohlfahrtspolitik, also durch Verbesserung der Einkommen, Renten- und Arbeitsmarktpolitik, Mitbestimmung und Ausbau des Gesundheitssystems gefördert wurde. Burkart Lutz hat diese Phase analysiert und gezeigt, dass die auf Grund von Vollbeschäftigung mögliche Einkommensverbesserung der Masse der Bevölkerung der entscheidende Motor der Entwicklung gewesen ist. Zugleich aber zeigt er unter dem Titel „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“, dass diese Zeit mit einer einmaligen Konstellation verbunden war.

 

Dass in dieser Zeit aber auch die normativen Ansprüche an Sozialstaatlichkeit gewachsen sind, ergab sich aus der Proklamation der Allgemeinen Menschenrechte im Jahr 1948, die Erfahrung nationaler Solidarität im Krieg und in der Nachkriegszeit sowie das politische Bewusstsein, dass Kriege immer auch wegen der Finanzierung durch das Kapital ermöglicht werden.

 

 

Globalisierung

Es gibt zweifellos verschiedene Ursachen für die ab Mitte der 1970er Jahre diagnostizierte Krise des Sozialstaats. Am wichtigsten dürfte der Fall der Profitrate sein, der die Unternehmen in Japan, Westeuropa und Nordamerika veranlasste, ihren Markt weiter zu internationalisieren. Die Expansion der Märkte und der Produktionsorte schafft eine internationale Wertschöpfungskette, die die heimischen Standorte unter Druck setzt. Globalisierung wird also zum Bumerang, der die Beschäftigten in den Zentren trifft. Mit dem Argument, anderswo billiger produzieren zu können, wird der Abbau der Löhne und der sozialen Standards vorangetrieben. Der Wandel vom „keynesianischen Wohlfahrtsstaat“ zum Wettbewerbsstaat ist tiefgreifend. Die Mittelschicht, die vom Wohlfahrtsstaat besonders profitiert hat, gerät unter Druck. Die Aufstiegshoffnungen der 1950er und 1960er Jahre verwandeln sich in Abstiegsängste. Zur Sicherung des Standorts mobilisiert der Staat billige Arbeit durch fortschreitende Disziplinierung.

Was durch Globalisierung voranschreitet, ist durch die europäische Integration schon eingeführt worden. Die Staaten versuchen innerhalb des gemeinsamen Marktes durch Industrieförderung möglichst viele Investitionen in ihr Land zu holen. Ein Mittel ist dabei die Verbilligung der Arbeit. Deutschland hat diesen Weg schon länger beschritten und damit seine hegemoniale Position in Europa abgesichert. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass heute die Europäische Zentralbank die Gewerkschaften auffordert, kräftige Lohnerhöhungen zu verlangen. Die Verbilligung der Arbeit lässt die Armut  in allen europäischen Ländern gleichzeitig mit dem Reichtum wachsen, so dass die Besitzenden Europas  zusammen mit den Banken eine Machtelite bilden, die autokratisch den Staat besetzt hält („Oligarchen-Herrschaft“). Demokratie ist reduziert auf die Zustimmung zu einer Politik, die sich als alternativlos verkauft.

 

Amerikanisierung?

Ein Merkmal dieser Politik ist eine beachtliche Annäherung der europäischen, insbesondere der deutschen Sozialpolitik an das amerikanische Modell (Seeleib-Kaiser 2014). Die Zugehörigkeit zum qualifizierten Arbeitsmarkt wird mehr denn je zur zentralen Bedingung für eine gesicherte Existenz. Die sozialen Leistungen für Arbeitslose und Rentner werden gekürzt und nähern sich dem amerikanischen Niveau an. Wer nur eine unterbrochene Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt aufweist und wer länger arbeitslos ist, wird von Armut bedroht und wird im Alter tatsächlich arm. Der Unterschied zwischen dem europäischen Sozialmodell und dem amerikanischen bleibt aber erhalten, denn in Europa gibt es eine Mindestsicherung auf dem Niveau der Sozialhilfe. Der Bürger wird nicht gänzlich seiner Sozialrechte beraubt, die De-kommodifizierung bleibt auf einfachem Niveau erhalten. Wenn aber, wie es in Deutschland der Fall ist, die Sanktionen der Arbeitsverwaltung auch die Leistungen auf dem Niveau des Existenzminimums reduzieren, dann ist auch diese basale Linie der Zugehörigkeit zur Gesellschaft zerstört. Auf jeden Fall ist der Graben zwischen der Armutsbevölkerung und der in den Arbeitsmarkt Integrierten tiefer geworden. Dies wirkt sich disziplinierend aus, so dass bis in die Schicht der Akademiker hinein auch unerwünschte und schlecht bezahlte Arbeiten angenommen werden. Flächendeckend sind inzwischen Befristungen der Arbeitsverträge.

 

Beim Nachdenken über die Zukunft gibt es – entgegen der bisher eher pessimistischen Einschätzung – durchaus auch- auf den ersten Blick – günstigere Modelle. So lässt sich fragen, welche Konstellation für die Prosperitätsphasen vor dem 1. und nach dem 2. Weltkrieg relevant war. Während für die Prosperität nach dem 2. Weltkrieg wohlfahrtstaatliche Politik  ausschlaggebend war, diagnostiziert Lutz für die Phase vor dem 1. Weltkrieg: „Vor dem Ersten Weltkrieg war der starke nationale Staat, der nach außen den Handel schützte und im Inland für Ruhe und Ordnung sorgte und niedrige Lohnkosten sicherte, eine essentielle Voraussetzung imperialistischer Landnahme durch Eroberung von Kolonialreichen und Erschließung wirtschaftlicher Einflußzonen“ (Lutz 1989, S.261) Nun kann die stetige Erweiterung der Europäischen Union seit ihrer Gründung im Jahr 1957 durchaus als solche Landnahme für den modernen Markt der Zentren verstanden werden. Obwohl politisch und menschenrechtlich die Erweiterungsschritte inzwischen bedenklich sind, schreitet die Expansion voran und hat die Staaten zwischen der EU und Russland ergriffen. Der Kosovokrieg im Jahr 1999 zeigt, dass auch vor einer militärischen Landnahme nicht zurückgeschreckt wird. Wenn man nun die Investitionen amerikanischer Konzerne und der EU in der Ukraine berücksichtigt, dann erscheint die Krise in der Ukraine nicht mehr überraschend. Da der Westen schon einmal einen Kalten Krieg gewonnen hat, scheint ein solcher wieder vor der Tür zu stehen, dieses Mal gegen Russland allein.

 

Der aktivierende Sozialstaat

Die Überlegungen zum Arbeitsmarkt greifen jedoch zu kurz, sie sind auf das Ökonomische begrenzt. Der Umbau des vorsorgenden Sozialstaats in einen aktivierenden Sozialstaat ist mit einer grundsätzlichen Neuerfindung des Sozialen (Lessenich) verbunden. Die individuellen Wertpräferenzen sind jetzt auch die Steuerungsimperative des Staates. Die Individuen sind an Autonomie, Flexibilität, Mobilität und Selbstbestimmung interessiert. Und genau dies schreiben ihnen auch Staat und Gesellschaft vor. „Sei subjektiv und bestimme Dich selbst!“- so lautet der Slogan. „Doch wehe, Du wirst dabei Deiner Verantwortung für Dich und die Gesellschaft nicht gerecht!“ Das Soziale, also der gesellschaftliche Zusammenhalt, an dem das Individuum aus Gründen der Selbsterhaltung interessiert sein muss, wird neu erfunden in der paradoxen Form des subjektiven Wollens. Damit wird die frühere pädagogische Formel der „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“, die in der Sozialpädagogik zu einem Arbeitsprinzip heranreifte, zum gesellschaftspolitischen Programm. Auch in dieser Hinsicht kann man vom Aufwind für die Sozialpädagogik sprechen. Aber die Formel wird nicht mehr in der pädagogischen Beziehung erprobt, sondern direkt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchgesetzt. Es gibt dort keinen Spielraum für die Erprobung, was die pädagogische Provinz ausgezeichnet hat.  Die Regierung der Gesellschaft wird mit Moralisierungen angehäuft („Iss nicht zu viel“, „Werde nicht fett, bleibe fit“, „Rauche nicht, trinke mäßig“) und die Medien übernehmen die Durchsetzung dieses Programms. „Im neuen Sozialstaat konstituiert sich die Gesellschaft als Subjekt, das auf sozialkompatibles Handeln der Subjekte hinwirkt. Mit der Aktivierung sozial verantwortlicher Eigenaktivität der Individuen etabliert sich ein neues sozialstaatliches Relationierungsmuster, das die Subjekte gleichsam uno actu mit sich selbst (ihrem „Eigeninteresse“) und mit der gesellschaftlichen Gemeinschaft (dem „Gemeinwohl“) in Beziehung setzt.“ (Lessenich S. 85)

Das Programm von „Fördern und Fordern“ hat ebenso eine Formel aus dem Innenbereich der Sozialarbeit in die Politik transformiert. Beratung und Begleitung werden im „Fallmanagement“ verschmolzen mit permanenter Kontrolle und Sanktionsandrohungen.

 

Der aktivierende Sozialstaat, der an die Stelle des Staates der Dekommodifizierung getreten ist, hat eine angenehme Seite. Wer zur Arbeit animiert werden soll, der braucht Bildung, Betreuung der Kinder und der alten Menschen, damit die Menschen im Erwerbsalter tatsächlich auch berufstätig werden können. Die Mobilisierung von Arbeitskräften, insbesondere der Frauen bzw. der Mütter, bringt Aufwind für die Soziale Arbeit und das Bildungssystem. Die finanziellen Transferleistungen sollen reduziert werden, die sozialen Dienstleistungen sollen dagegen soweit sie die Beschäftigungsfähigkeit fördern, ausgebaut werden. So wie die Staaten um den besten Standort konkurrieren, soll der Bürger durch die Inanspruchnahme von Weiterbildung und durch Selbstmanagement um die sicheren Plätze im Arbeitsmarkt kämpfen. Und diejenigen, die noch in Arbeit integriert sind, müssen sich selbst disziplinieren und Schwächen überwinden.

Alle Berichte aus der Welt der Arbeit weisen deshalb auf permanenten Stress, auf Überforderung, auf Beschleunigung und Verdichtung, auf burning out und auf Erschöpfung hin. Auch in dieser Situation ist Soziale Arbeit gefragt, denn sie soll ihre unterstützende Kompetenz zielstrebig für die Rehabilitation der Erschöpften einsetzen.

 

Aufwind und Druck

Das Doppelgesicht der Pädagogisierung der Gesellschaft kommt an vielen Stellen der gegenwärtigen Entwicklung zum Vorschein. So wächst der Bereich der Jugendhilfe in Deutschland seit Jahren kontinuierlich. Von Abbau des Sozialstaats kann an dieser Stelle keine Rede sein. Die vorschulische Erziehung wird mit großer Geschwindigkeit ausgebaut, die Kosten für die Jugendhilfe steigen jährlich. Die Zahl der in der Jugendhilfe Tätigen ist von ca. 510 000 im Jahr 2000 auf ca. 700 000 im Jahr 2013 gestiegen. Zwischen 2006 und 2012 sind die Ausgaben für von 20,9 auf 32,2 Milliarden gestiegen. Zwischen 1998 und 2012 haben sich die Ausgaben fast verdoppelt. (Komdat 1&2/2014) Betrachtet man die gesamte Gruppe der Sozialen Berufe, so ergibt sich folgendes Bild: Im Jahr 2010 werden die Berufstätigen in diesem Bereich auf 2,2 bis 2,5 Millionen geschätzt; das sind 8% aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Im Jahr 1980 haben knapp 300 000 Menschen „sozial“ gearbeitet; seitdem lag die jährliche Steigerungsrate bei 5,6%. Allerdings muss man ergänzen, dass fast die Hälfte dabei nur halbtags beschäftigt ist (Nodes/Wohlfahrt 2012)

 In Deutschland wurde besonders die Tätigkeit in den Kindertagesstätten in der Weise pädagogisiert, dass eine kontinuierliche Beobachtung der Kinder durchgeführt und dokumentiert wird. Förderung, Prävention und Kontrolle gehen Hand in Hand.

Die widersprüchliche Expansion der Sozialpädagogik wird auch an den Programmen für den Kinderschutz und für den Umgang mit Jugendkriminalität sichtbar. Eine der strukturellen Veränderungen in der Steuerung der Jugendhilfe ist der Wechsel von „Wohlfahrt“ zu „Sicherheit“ als Zielformeln (vgl. Dollinger 2014). Dieser Wandel ist grundlegend und berührt alle Politikbereiche. „Sicherheit“ ist gleichzeitig weiter gefasst als die „soziale Sicherheit“, die im ersten Modernisierungsprozess im Vordergrund stand. Damals musste „das Soziale“ nach der Herauslösung aus feudalen Sicherheits- und Abhängigkeitsstrukturen durch Arbeitsvertragssicherheit im Kapitalismus neu gefunden werden. In der Zweiten Moderne werden die Menschen aktiviert und mobilisiert, um Beschäftigung an beliebigen Orten ihres Landes oder des ganzen Europas zu finden. Die Mobilisierung bezieht sich gesellschaftsintern besonders auf Frauen, die in der Vergangenheit für Familienarbeit, Erziehung der Kinder und Pflege der Alten –oft bei gleichzeitiger Teilzeitbeschäftigung – zuständig waren – und vielfach heute noch sind. Soziale Sicherheit ist jetzt die Sicherheit und Freiheit des Individuums, das umso abhängiger von den Sozialversicherungen wird, je stärker es aktiviert wurde. Denn Mobilisierung bedeutet Herauslösung aus Gemeinschaften; damit werden auch die vielfältigen „sozialen Polster“ zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft dünner.

Die Leistung der Gemeinschaften ist immer auch soziale Kontrolle gewesen. Sie hat auch Orientierung vermittelt und ohne sie wird Verunsicherung zur allumfassenden Erfahrung im Alltag. Orientierungssicherheit wird dann vor allem durch die Medien hergestellt – von den Massenmedien bis hin zu den „sozialen Netzwerken“. Gerade die Massenmedien erzeugen aber nicht nur Sicherheit, sondern machen Angst durch ihre Fixierung auf crime und die Dramatisierung des Ungewöhnlichen. Sie bedienen die Lust an Sensationen und steigern dieses Bedürfnis im Kampf um Markanteile. Besonders lukrativ sind in dieser Hinsicht Berichte über Katastrophen mit unschuldigen Opfern, verwerflichen Tätern und starken Schädigungen, am besten noch mit Grausamkeiten. Solche Berichte entgrenzen Sicherheitsbedürfnisse und legitimieren jede Form einer sich präventiv und beschützend etikettierenden Sicherheitspolitik. Insbesondere im Bereich des Kinderschutzes und der Kriminalität reichen einzelne Berichte in den Medien aus, um die Gesetzgebungsmaschinerie in Gang zu bringen und eine Politik des Verwahrens und Einsperrens der Täter auszubauen. Soziale Probleme werden „in Fragen der Sicherheit und ihrer Gewährleistung“ (Dollinger, S. 299) übersetzt. Bei ihrer Bearbeitung verschwindet die Komplexität der Ursachen, es dominiert die Rigidität der einfachen Lösung.

Allerdings lässt sich eine solche Spirale der staatlichen Repression (und der sozialen Kontrolle der Nachbarschaft im Falle des Kinderschutzes) nicht beliebig fortsetzen. Denn die Politik der Sicherheit produziert weitere Bedürfnisse nach mehr Sicherheit. Und Strafe statt Therapie erzeugt Rückfälligkeit. Deshalb gibt es immer wieder eine Auseinandersetzung um differenzierte Interventionen, die professionell gesteuert werden. Weil diese teuer sind, werden sie vermieden und die Gesellschaft soll sich selbst schützen. Die Militanz kehrt zurück in die Selbsthilfe der „präventiven“ Organisationen.

Sozialpolitik nimmt die Form einer intensiven Politik der Risikovermeidung an. Umfangreiche Diagnosen und Verfahren der Überwachung sollen Katastrophen vermeiden – doch sie decken auch immer neue unsichere Lebenslagen auf und rufen nach weiteren Interventionen.  Weil diese nicht bezahlbar sind, gibt es nur einen Ausweg: die „Schuldigen“ sind der Hilfe und Unterstützung nicht wert. Soweit die Sozialarbeit sich mit ihnen beschäftigt, soll sie es mit harter Hand tun.

In diesen Prozessen ist die Soziale Arbeit also massiv involviert. Ihre quantitative Ausweitung ist jedoch mit einer qualitativen Formung verbunden. Gesellschaftlich erwünscht sind Konzepte, die nicht mehr zwischen subjektiven Ansprüchen und gesellschaftlichen Anforderungen vermitteln, sondern Verfahren, die unter dem Mantel der Individualisierung die gesellschaftlichen Anforderungen durchsetzen. Der friendly visitor mit seinem puritanischen Habitus ist zurückgekehrt.

 

 

Literatur

Dollinger, Bernd: Soziale Arbeit als Realisierung protektiver Sicherheitspolitiken. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 12 (2014), S. 296 – 314.

Esser, Josef: Der kooperative Nationalstaat im Zeitalter der „Globalisierung“. In: Döring, Dieter (Hrsg.): Sozialstaat in der Globalisierung. Frankfurt am Mainz: Suhrkamp 1999, S. 117 – 144.

Kaufmann, Franz Xaver: Varianten des Wohlfahrtsstaates. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.

Komdat (Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe). 17 (2014) Heft 1&2

Lessenich, Stephan: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialkstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript 2008

Lutz, Burkart: Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main/New York: Campus 1989.

Marshall, Thomas Humphrey: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt am Main: Campus 1992.

Nodes, Wilfried/Wohlfahrt, Norbert: Aktuelle Entwicklungen der Produktion Sozialer Arbeit in Deutschland. In: Dahme, Heinz-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (Hrsg.): Produktionsbedingungen Sozialer Arbeit in Europa. Baltmannsweiler: Hohengehren Verlag 2012, S. 113 – 132.

Seeleib-Kaiser, Martin: Wohlfahrtssysteme in Europa und den USA: Annäherung des konservativen deutschen Modells an das amerikanische? In: WSI-Mitteilungen, 67 (2014), Heft 4, S. 267 – 276.

 

 

 

 

 

 

Aufforderung zur Fortsetzung

Institut zur Förderung von Bildung und Integration – INBI. Beitrag zur Feier zum 15-jährigen Bestehen am 24.11.2015 in Mainz

 

Wenn ich diese Rede vor vier Wochen gehalten hätte, dann wäre ich wahrscheinlich in der Einleitung auf die deutschen Skandale des Jahres eingegangen: Auf den Deutschen Fußballbund und die FIFA, auf die Deutsche Bank, auf den Volkswagenkonzern, auf die Desaster mancher Landesbanken. Ich hätte vielleicht den ADAC in Erinnerung gebracht oder den Missbrauch von Kindern durch Priester oder den Berliner Flughafen oder den einmaligen Sturz eines Bundespräsidenten. Und vieles andere wäre zu erwähnen gewesen. Das Gemeinsame dieser Ereignisse, die der Kapitalismuskritiker problemlos unter der Überschrift „gieriges Geld und Doppelmoral“ abhandeln kann, wirkt bis heute nach: Das Vertrauen auf wichtige Institutionen der Gesellschaft ist erschüttert – nicht das erste Mal, aber in dieser Häufung nachhaltig. Die Orientierung an Solidität und Verlässlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Prinzipientreue zentraler Institutionen verliert an Stabilität. Eine Reaktion auf diese Entwicklung ist die feierliche Beschwörung von Werten. Je mehr sie uns fehlen umso mehr reden wir darüber. An Stelle der Verfassung, die die Gesellschaft zusammenhält, reklamieren wir Werte. Aber Werte bestehen nicht in den Deklamationen, sondern in der Praxis einer Gesellschaft oder sie bestehen nicht. Wenn an die Werte appelliert wird, dann rufen wir in Erinnerung, wie wir sein möchten, wie wir aber nicht sind.

Wenn aber in einer Gesellschaft die „inneren Werte“ abhandengekommen sind, dann braucht sie vor allem einen äußeren Feind oder Gegner, der vielleicht noch liederlicher ist als sie selbst. Dieser Mechanismus ist der älteste in der Geschichte der Menschheit, in der Abraham-erzählung, die ja allen drei monotheistischen Religionen gehört, zum Ausdruck gebracht. Der Sündenbock in der Wüste nimmt alle Schuld auf sich. Das Bedürfnis nach Abspaltung und Verdrängung, Projektion und Aggressionslenkung ist nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern auch ein gesellschaftlicher Mechanismus. Wir erleben ihn sowohl in unseren Alltagsbeziehungen wie auch in der medialen Herstellung von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Samuel Huntington hat das auf den Begriff gebracht: Wenn wir wissen, wer unsere Feinde sind, dann wissen wir, wer wir sind. Wir trauern zu Recht um die Toten von Paris. Wie trauern wir aber um die Toten von Kundus? Trauern wir um die Toten von Beirut und um die Millionen Toten im Afghanistankrieg und im Irakkrieg? Und wie verhält es sich mit den Toten in den Nachkriegswirren bis heute im Nahen Osten? Nehmen wir die Schmerzen der Angehörigen von fünf Hochzeitsgesellschaften im Jemen überhaupt wahr, die von saudischen Bomben getötet wurden? Allgemeiner gefragt: Wie verteilt sich unser Gefühlshaushalt auf die Welt und ihre Brennpunkte? Natürlich ist die „Fernstenliebe“ ein hohes, religiös getöntes Ideal; aber sie gehört nicht zu den Erfahrungen unserer Geschichte. Aber warum folgen wir so absolut sicher einer unausgesprochenen Ordnung der konzentrischen Kreise um uns herum? Wir lieben die Mitglieder unserer Familie und von diesem Zentrum aus verlieren die Beziehungen nach außen, je weiter wir uns von uns selbst entfernen, an Stärke. Die Egozentrik weitet sich lediglich zum Ethnozentrismus, dann sind der Nationalismus und der Rassismus nicht fern. Auch wenn diese Steigerungen die Liebe und Bindung in Hass und Aggression verwandeln, so folgen sie doch derselben Logik. Den Nationalstaat haben wir lieben gelernt, mit Europa ist das schon schwieriger geworden. Gerade jetzt, da es sich gleich mehrfach in der Krise befindet, fallen unsere inneren Bindungen von ihm ab und konzentrieren sich auf den Nationalstaat, die Region („200 Jahre Rheinhessen“) oder auf die Kommune. Das Schema ist einfach: Mainz gegen Wiesbaden. Gonsenheim gegen Finthen.

Diese Ordnung unserer Lebenswelt hat ja auch etwas ausgesprochen Lebensdienliches; sie ist funktional notwendig. Welche Orientierung in der Welt könnten wir denn erwerben, wenn wir nicht in einem ruhigen Pol, in einem „sicheren Hafen“ beginnen können. Wir wären dem dynamischen Wandel der Verhältnisse ausgesetzt. Und diese Verhältnisse sind heute durch eine rasende Globalisierung, durch uns selbst in Gang gesetzt, charakterisiert. Doch was ist, wenn wir dabei stehen bleiben? Sind wir dann mit unserer Provinzialität des lokalen Denkens nicht auch in unserer kleinen Welt gefangen und der großen Welt nur ausgesetzt? Gibt es denn nichts, was es uns ermöglicht, in dieser eigenen Welt zu bleiben und doch auch in der großen Welt zu Hause zu sein?

Mit dieser Frage bin ich nun endlich, nach dem etwas ausgedehnten Anlauf im Allgemeinen, beim Institut zur Förderung von Bildung und Integration. Natürlich nicht beim ganzen Institut, dessen Tätigkeit ich nur von einem Zipfel der Tischdecke her übersehe. Aber ich bin beim Begriff der Bildung – das Zauberwort ist zentral für die Arbeit in den 15 Jahren des Bestehens von INBI. Und es ist der eigentliche Anspruch der Arbeit, nicht nur Lernen anzubieten, nicht nur Integration als einen selbstverständlichen Prozess zu fördern, nicht nur Projekte zu akquirieren und abzurechnen, nicht nur Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit für die Integrationspolitik zu organisieren – sondern Bildung zu fördern. Bildung ist mehr als Lernen und Üben, mehr als Trainieren und Auswendiglernen, mehr als Informationen aufzunehmen und mehr als Daten und Fakten zu wissen und zu reproduzieren. Dies alles ist notwendig, um in der Welt, zumal wenn es eine fremde Welt ist, zurechtzukommen und Erfolg zu haben. Bildung ist eine Tätigkeit des Subjekts. Gebildet werde ich nicht von anderen, bilden kann ich nur mich selbst. Andere können mich unterstützen, können mir das Lernen erleichtern, aber bilden kann ich nur mich selbst. Denn Bildung ist nicht der Weg von außen nach innen, auch nicht einfach von innen nach außen – das ist die Expression, die bloße Selbstverwirklichung. Bildung ist vielmehr das Verhältnis von innen und außen. Indem ich mich bilde, nehme ich Stellung zur Welt, ich eigne mir etwas an, ohne es zu kopieren, ich verwandle es in das, was mir zuträglich ist und wie es meinem kritischen Nachdenken gerecht wird. Bildung setzt also das Subjekt schon voraus, das in der Bildung erst entsteht.

Wir befinden uns mit diesem Gedankengang mitten in der Frage, wie wir, jeder und jede von uns, Mensch geworden sind und ständig Mensch werden. Weder der Bildungsprozess noch unsere Menschwerdung wird je abgeschlossen. Und manche Theologien und andere religiöse Vorstellungen ziehen daraus den Schluss, dass der Mensch im Tod seine Menschwerdung vollendet. Das will ich an dieser Stelle nicht fortsetzen. Es geht hier ja um eine 15-Jahr-Feier.

Aber ich will mich auf das Thema der Bildung konzentrieren. Das Subjekt ist der Mensch, der weiß, dass er unterworfen ist. Diese ursprüngliche Wortbedeutung ist entscheidend. Das Subjekt ist nicht der Herrscher oder die Herrscherin der Welt, es ist den Gesetzen der Natur und der Geschichte der Gesellschaft unterworfen. Aus diesen kann es nicht herausspringen. Es kann sich nur, oder sagen wir an dieser Stelle, es kann sich aber diese Gesetze aneignen, sie verstehen und mit ihnen selbstbestimmt umgehen. Bildung ist Widerspruch. Bildung ist der Weg, wie wir die für uns als Individuen und für uns zusammen als Menschheit entscheidenden Vorgaben aneignen können. Dabei geht es heute um die Menschenwürde und die Menschenrechte. Denn ohne sie kann das Individuum nicht Würde für sich reklamieren, ohne Menschenrechte können wir nicht zu einem Zusammenleben in Menschlichkeit und Gerechtigkeit kommen. Im Bildungsprozess bleiben wir bei uns, wie wir geworden sind, und wir erwerben eine Orientierung an dem, was für alle Menschen tatsächlich wichtig ist. Wir können uns der Geschichte unserer Gesellschaft, in der wir Mitglied mit einem ethnozentrischen Weltbild geworden sind, bewusst werden und finden dadurch einen Platz in dieser Gesellschaft, den wir im Wissen um unsere Bedeutungslosigkeit selbstbewusst einnehmen. Wir werden geformt durch die Gesellschaft, die uns umgibt, und niemand spürt dies besser als der Mensch, der von einer Gesellschaft in die andere wechselt. Er merkt das insbesondere dann, wenn er in seine frühere Gesellschaft zurückkehrt, sei es für kurze, sei es für längere Zeit. Nicht nur die Gesellschaft hat sich verändert, sondern auch er selbst. Bildung ist nun der kleine, und gleichzeitig so große Schritt, sich diesen Veränderungsprozess anzueignen, aktiv mit ihm umzugehen. Nicht im Sinne seiner Beherrschung, sondern im Bewusstsein, dem Veränderungsprozess nicht verständnislos ausgesetzt zu sein. Durch Bildung bleiben wir in unserer Lebenswelt und sind gleichzeitig nicht ihre Gefangenen.

Viele Menschen denken leicht melancholisch über ihre Kindheit nach – ist sie doch Symbol der verlorenen Einheit des Individuums mit seiner Welt. Und wenn Kinder konzentriert spielen, können wir zusehen, wie sie in dieser Einheit der Konzentration und des Bei-sich-Seins Mensch werden. Als Subjekt wissen wir, dass wir diese Einheit nicht wieder herstellen können. Bildung aber vermittelt uns die Fähigkeit, bei uns zu sein und gleichzeitig die Welt von dem her zu verstehen, was sie „im Innersten zusammenhält“.

Bildung führt nicht automatisch zur Trauer über die Menschen, die irgendwo in der Welt sterben. Sie ermöglicht uns aber ein Überschreiten unserer Fixierung auf uns selbst, sie ermöglicht uns eine Reflexion auf die Umstände, wie wir in unserer kleinen Welt mit den Welten anderer Menschen verbunden sind, sie ermöglicht uns Einsichten in Zusammenhänge. Und sie ermuntert uns zur Übernahme von Verantwortung für diese Welt.

Also: Nichts weniger als Bildung will INBI fördern. Das ist ein hoher Anspruch. Aber für seine Realisierung sich einzusetzen – das lohnt sich. Also weiterhin viel Kraft, klaren Verstand und Liebe zur Bildung für die nächsten 15 Jahre……

 

 

 

Wider das Staatsversagen in der Flüchtlingspolitik

Podiumsdiskussion bei der Interkulturellen Woche 2015

 

Meine Damen und Herren,

im Sommer dieses Jahres wurde General Joseph Dunford zum Chef des Amerikanischen Generalstabs ernannt. Er wies dabei darauf hin, dass Russland als Gegner der USA ernster zu nehmen sei als der Islamische Staat. Auf Anfrage aus Deutschland schrieb der liberale, des Nationalismus unverdächtige Intellektuelle Norman Bierbaum in einem Kommentar, dass dies kein besorgniserregendes Statement, sondern lediglich die typische Auffassung der amerikanischen Militärelite sei. Ob das nun beruhigend ist oder nicht, wäre in Rheinland-Pfalz ernsthaft zu diskutieren, doch geht es um einen anderen Satz in diesem Kommentar. Bierbaum schreibt: „General Dunford steht beispielhaft für die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten, die die Streitkräfte Personen bieten, die Karriere machen ohne auf die Vorteile familiärer Beziehungen oder großes Vermögen zurückgreifen können. Er stammt aus der Gruppe irisch-katholischer Einwanderer, welche uns auch die Kennedys und viele kritische und progressive Leute beschert hat…Die katholische Gemeinschaft Amerikas erlebt darüber hinaus gewisse Turbulenzen angesichts der Radikalität von Papst Franziskus. Es ist unmöglich, vorherzusagen, wie sehr das den zukünftigen Vorsitzenden beeinflussen wird, aber die Möglichkeit sollte nicht unterschätzt werden.“ Interessant ist an diesem Kommentar der Umstand, dass in einem gestandenen Einwanderungsland über Jahrhunderte hinweg der Migrationshintergrund zur Charakterisierung einer Person herangezogen wird. Bei den Ur-Ur-Enkeln von Peimaneh Nemazi-Lofink, von denen einer sicherlich Bundeskanzler geworden ist, wird man sich also fragen, ob die je aktuellen Vorgänge im Iran sein politisches Handeln beeinflussen werden.  Wie dem auch sei – das Beispiel ist ein Hinweis darauf, dass Migrationsprozesse sich im kollektiven Bewusstsein einer Gesellschaft nachhaltig niederschlagen – ob wir das wollen oder nicht. Und wer es mit etwas mehr Humor mag, möge sich den Film „Gran Torino“ von Clint Eastwood gleich mehrfach ansehen, um all jene ethnischen Anspielungen verstehen zu können.

Damit ist eine Frage dieser Diskussion, die nach der Zukunft, vorläufig schon beantwortet, ich möchte auf einige Umstände eingehen, die uns heute bewegen und die für die gründlichere Beantwortung der Frage relevant sind.

Die Frage der Podiumsdiskussion ist jenseits der aktuellen Ereignisse, nämlich der Zuwanderung von Flüchtlingen nach Mitteleuropa gestellt. Aber sie kann nicht unabhängig von dieser Zuwanderung, mehr noch aber von der politischen Reaktion auf diese Zuwanderung diskutiert werden. Dennoch ist es sinnvoll, eine gewisse Distanz einzunehmen, um einen Überblick zu gewinnen. Wir sollten über den Tellerrand hinausblicken, weil nämlich wieder einmal Lösungen versprochen werden, die keine sind, sondern Verschlimmerungen der Lage. Die militante Abwehr von Flüchtlingen wird nur deren Verzweiflung stärken, die sie noch mehr antreibt, einer hoffnungslosen Lage zu entkommen. Auch macht sich bei ihnen die Erkenntnis breit, dass es sich bei Angelas Sprüchen um die letzten gehandelt hat, die ein Tor nach Mitteleuropa öffnen. Der Druck auf schnellen Wanderungserfolg steigt. Außerdem erhöhen sich schnell die Kosten für die Flucht, die Mafia wird in kurzer Zeit noch reicher und die Herkunftsländer verarmen rapide. Die öffentliche Aufmerksamkeit hier befasst sich mit den täglich wechselnden Problemlagen und verliert die strukturellen Bedingungen aus den Augen. Gleichzeitig macht sich Resignation breit, weil kurzfristig an den Ursachen nichts zu ändern sei. Dies ist vor allem für die vielen engagierten Bürger und Bürgerinnen ein schleichendes Gift der vermuteten Vergeblichkeit. Die Stimmungsentwicklung in der Bevölkerung wird aufgeheizt („Flüchtlinge überrennen Kroatien“, AZ 18.9., „Die Flüchtlingsfrage spitzt sich zu“ u.s.w.) Ansonsten dominiert aber eine ausgedehnte, aber emotionale Hilfsbereitschaft. Deshalb ist sie in ihrem Bestand gefährdet.

 

Ein gravierendes Problem ist die Konfusion der Rechts- und Politikbereiche. Die Arbeitsmarkt- und die Einwanderungspolitik auf der einen Seite und die Flüchtlingspolitik auf der anderen Seite folgen prinzipiell unterschiedlichen Logiken. Es handelt sich nicht nur um unterschiedliche Gesetzesbereiche. Die Bundesrepublik hat seit 1955 erfolgreich eine Arbeitsmarktpolitik gemacht, die Zuwanderung nach den eigenen Interessen und nach reinen Nützlichkeitserwägungen gestaltet. Das war mit mehr oder weniger Konflikten und Problemen verbunden, ist aber grundsätzlich gelungen: dem Arbeitsmarkt standen immer die Arbeitskräfte zur Verfügung, die er gebraucht hat. Auch die sogenannte Integration ist in Deutschland gelungen, jedenfalls besser als in vielen anderen europäischen Staaten. Die Migranten haben durch erzwungene Rückwanderung, durch bescheidene Platzierung in der unteren Hälfte der Gesellschaft und durch ähnliche Prozesse die Kosten dafür getragen. Diese Politik soll, und dafür gibt es seit Jahren eine überquellende Propaganda der Wirtschaft, im Interesse eines alternden Landes forciert werden. Die sogenannte Süssmuth-Kommission hatte dazu schon vor 14 Jahren einen ausgearbeiteten Vorschlag unterbreitet, wobei auch die humanitären Konsequenzen der Arbeitsmarktpolitik berücksichtigt wurden. Und Pro Asyl schreibt sich seit Jahrzehnten die Finger wund und fordert einen Einwanderungskorridor nach Afrika, um hierzulande die Arbeitsmarktprobleme langfristig zu bearbeiten und gleichzeitig den Wanderungsdruck in afrikanischen Ländern abzumildern. Die Reaktion auf diese und viele andere Forderungen war die reine Ignoranz, heute noch von den rassistischen Dumpfbacken aus Bayern oder auch der rheinlandpfälzischen Oppositionsführerin vorgeführt.

Die Flüchtlingspolitik hat aber mit Arbeitsmarktinteressen nichts zu tun. Das Grundgesetz und die Genfer Flüchtlingskonvention, 1953 zum deutschen Gesetz geworden, folgen einem ausschließlich humanitären und menschenrechtlichen Impuls. Es gibt keine einschränkende Bedingung für Humanität. Vielleicht kann man die eigene Erschöpfung geltend machen. Aber als ich in der letzten Woche zu Beginn einer Nachrichtensendung hintereinander drei Spots gesehen habe, nämlichen einen zur Flüchtlingsfrage, einen zur Eröffnung des Oktoberfestes und einen zur Eröffnung der Internationalen Automobilausstellung, bin ich nicht auf diese Überlegung gekommen. Zweifellos erleichtert das jahrelange Trommeln für Einwanderung in den Arbeitsmarkt auch die Aufnahme von Flüchtlingen, aber sie steht in der Gefahr, schnell nach Gutsherrenart beendet zu werden. Die Aufkündigung des Dublin-Abkommens am 28. August ausschließlich für Flüchtlinge aus Syrien hat genau diese Politik realisiert. Wir nehmen die Flüchtlinge auf, die wir auf dem Arbeitsmarkt brauchen können. Unter den Bedingungen des alten Rechts, dass Flüchtlinge vom Arbeitsmarkt ausgesperrt waren, war die Forderung, dies zu ändern, eine humanitäre Forderung. Jetzt wird die Logik umgedreht und das Flüchtlingsrecht wird amputiert. Flüchtlinge werden nach Zweckmäßigkeitserwägungen behandelt. Und die Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist noch nicht einmal humanitär gestaltet, wie es sogar der § 1 des Aufenthaltsgesetzes vorschreibt. Denn es dominieren befristete Anstellungen mit mieser Bezahlung unter Qualifikationsniveau, entwürdigende Ignoranz gegenüber schon erreichten Qualifikationen – in ein–zwei Jahren werden wir sehen, wie auch die privilegierten Flüchtlinge nur eine Reservearmee bilden, die je nach Bedarf ein- oder ausgegliedert wird. Diese Behandlung hat Auswirkungen auf alle Einwanderer.

 

Mit der neuen Einwanderungsbewegung ist wegen der politischen und gesellschaftlichen Dramatisierung eine neue Gefährdung des Status der schon Eingewanderten verbunden. Ihre schon erreichte Sicherheit als Teil der Gesellschaft, die selbst bei einem nicht absolut sicheren Rechtsstatus besteht, wird erneut problematisiert. Der Rassismus funktioniert nicht zielgruppenspezifisch, denn er ist ja auch nicht in der Zielgruppe begründet. Der Rassismus nährt sich nur aus den Rassisten selbst, ein Objekt findet er immer. Und er wählt sich das Objekt aus, das am stärksten in der Öffentlichkeit problematisiert wird. Es zeigt sich wieder die allgemeine Migrationsregel: Gräben zwischen den zuletzt und den vorher Gekommenen werden durch die verallgemeinerten Abgrenzungsmechanismen aufgerissen. Es gibt auch konträre Interessenslagen: die einen versuchen Fuß zu fassen, die anderen können sich bedroht fühlen, weil sie immerhin zumindest mit einem Fuß in der Gesellschaft stehen. Hier setzt partizipative Politik an. Dies ist nichts Neues, denn in den Migrationsbeiräten haben auch bisher schon Flüchtlinge mitgearbeitet und Unterstützung gefunden. Die Frage nach der Gleichberechtigung ist einfach zu beantworten: Flüchtlinge und andere Einwanderer sollen nach einer kurzen Eingewöhnungszeit ein Daueraufenthaltsrecht erhalten, nach drei Jahren das Kommunale Wahlrecht und Einbürgerungsrechte nach 5 Jahren. Diese Forderungen sind seit Ende der 1970er Jahre vorgetragen und begründet worden. Das Spannungsverhältnis zwischen formaler Gleichheit und faktischer Benachteiligung bzw. Diskreditierbarkeit wird anhalten.

 

Ich halte die unbedingte Neutralität der Staatsorgane im Umgang mit Flüchtlingen und allen Eingewanderten für das gegenwärtig höchste Gut. Wir lesen von Hunderten von Attentaten auf Flüchtlingsunterkünfte. Nach Angaben der Bundesregierung sind im Monat Mai 968 politisch rechts motivierte Straftaten erfasst worden, darunter 81 Gewalttaten mit 68 Verletzten. Gegen keinen der Tatverdächtigen wurde Haftbefahl erlassen. Bei den Hunderten von Terrorakten gegen Flüchtlingsunterkünfte seit Beginn des Jahres habe ich nur zwei Mal von einer Verhaftung gelesen, nämlich als die Mordabsicht nicht mehr bezweifelt werden konnte. Vielfach werden diese Taten als Krawall verharmlost, sie sind aber Terror. Bei anderen Zielgruppen der Polizei und des Verfassungsschutzes geht es anders. Wenn jemand Geld sammelt für eine Gruppe im Ausland, die der Gewalt verdächtigt wird, wird er nicht nur schnell verhaftet, sondern auch mit hohen Strafen belegt.

 

Und was treibt eigentlich der Verfassungsschutz? Beim ersten Versuch, die NPD zu verbieten, saß er so sehr in deren Strukturen, dass das Verbot scheiterte. Der Präsident des Verfassungsschutzes warnt heute vor allem vor der Einwanderung des Terrors – aber er ist doch schon längst hier und wird verharmlost. Ich bin der Überzeugung, dass diese Verfassung erst dann geschützt ist, wenn es diesen Verfassungsschutz nicht mehr gibt.

Wir sollten unbedingt auf den amerikanischen Bürgerkrieg zwischen Polizei und schwarzer Armutsbevölkerung blicken: Wenn die rechtsstaatliche Gleichbehandlung durch die Staatsorgane rassismusbedingt verloren geht, tut sich ein Abgrund für die Demokratie und den Rechtsstaat auf. Und es werden in den USA nicht nur Schwarze von weißen Polizisten erschossen, sondern auch Polizisten von schwarzen Tätern. An sich sind Polizei und Justiz in Deutschland die Institutionen, die das höchste Vertrauen der Eingewanderten genießen. Das haben verschiedene Studien gezeigt. Die Einwanderer können die Situation hier mit der in ihren Heimatländern vergleichen und sie fühlen sich glücklich, in einem freien Rechtsstaat zu leben. Und von den Flüchtlingen haben gerade diejenigen, die die langen Wege durch Nordafrika gegangen sind, unendlich viel Leid gerade von der Polizei erfahren, sie wurden gefoltert und gequält, sie wurden erpresst und drangsaliert. Man lese einmal das Buch des italienischen Journalisten Fabrizio Gatti mit dem Titel „Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“. Und nicht wenige wurden getötet, bevor ihre Kameraden im Mittelmeer ertranken. Wir brauchen also noch viele Projekte wie das Projekt, das INBI gemeinsam mit der Polizei durchgeführt hat. Die rechtsstaatliche Bindung und Praxis der Staatsorgane ist ein hohes Gut.

 

Es kommt also gerade in dieser möglicherweise kritischen Situation darauf an, unsere rechtsstaatlichen Grundlagen zu festigen. Denn wenn sie noch nicht einmal Stabilität in leicht bewegten Zeiten aufweisen, wie soll es dann in belasteten Situationen der Zukunft aussehen? Leider haben wir von Europa nichts Positives zu erwarten, obwohl der Prozess, in dem das heutige Europa entstanden ist, untrennbar mit der Mobilisierung von Menschen verbunden ist. Die ersten Anwerbungen geschahen zeitgleich mit der Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Davon hat Deutschland in besonderer Weise profitiert. Und die Europäische Union hat die Lösung von Arbeitsmarktproblemen in besonders flexibler Weise ermöglicht. Das treibende Element waren immer die Ausdehnungsbedürfnisse der Märkte. Die Kontinuität der Ausweitung der europäischen Union ist ökonomisch, nicht politisch begründet. Vielfach sind Menschenrechtsansprüche und Rechts- und Sozialstaatsnormen eine oberflächliche Tünche geblieben. Der Umgang mit Flüchtlingen zeigt das endgültig. Und Deutschland hat zehn Jahre lang davon profitiert, dass Flüchtlinge in Griechenland und Italien bleiben mussten, weil sie dort den heiligen Boden der EU betreten haben. So hat jedes Land seine eigenen Interessen durchgesetzt.

Europa ist aber besonders in die Entstehung von Fluchtursachen eingebunden. An dem Krieg der USA und Saudi-Arabiens gegen Syrien beteiligen sich auch EU und die Bundesrepublik. Sie haben seit 2011 ein totales Embargo verhängt. Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion, vor allem aber die Herstellung von Medikamenten sind schon lange vollständig zum Erliegen gekommen. Medikamente sind nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen und extrem teuer. Die armen Kinder sterben, weil sie nicht versorgt werden. Nebenbei bemerkt: Ernährungssicherheit ist heute nur noch für 15 % der Flüchtlinge in und um Syrien herum gegeben (Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen). Die EU und die Bundesregierung können das Embargo heute beenden. Sie tun es nicht. Ein entsprechender Appell an die Regierung wurde noch nicht einmal beantwortet.

Aber es wird von Bekämpfung der Fluchtursachen schwadroniert. Ich kann solche Äußerungen von Politiken und Politikerinnen nur noch hören, wenn sie in der Heuteshow kommentiert werden. Vielleicht hat das Gespräch zwischen Putin und Obama heute geholfen, Verhandlungen mit allen Beteiligten aufzunehmen. Putin hat das schon 2012 vorgeschlagen, aber der ist ja nur noch ein Feindbild.

 

Ein anderes Beispiel: Europa betreibt eine hegemoniale Wirtschaftsdiktatur gegenüber Afrika. Fast alle Staaten mussten ihre Märkte für die Importe aus der EU öffnen. Seit 2014 sorgen die Economic Partnership Agreements dafür, dass die Ergebnisse der Entwicklungspolitik beseitigt werden. „Die afrikanischen Märkte werden mit hochsubventionierten Billigimporten aus Europa überschwemmt, gegen die einheimischen Produzenten nicht ankommen. Schon früher hatten europäische Fangflotten die Meere vor der westafrikanischen Küste leergefischt, so dass Fischer und Händler in ihrer Existenz bedroht waren und sind. Jetzt kommen noch Hühner dazu, von denen in Europa fast nur die Brust verarbeitet wird. Der Rest wird zu Dumpingpreisen nach Afrika exportiert. In Kamerun etwa gingen Kleinbauern reihenweise pleite, die ihre Zuchtbetriebe zuvor mit EU-Entwicklungshilfe aufgebaut hatten“ (Jochen Kelter).

 

Fluchtursachen werden in einem langen Prozess aufgebaut; deshalb ist die aktuelle Vertröstung auf ihren Abbau, da weder in der Waffenexportpolitik noch in der internationalen Handelspolitik der Europäischen Union Änderungen vorgenommen werden, reine politische Propaganda. Tatsächlich werden gegenwärtig kurzfristig nur repressive Maßnahmen zur Abwehr von Flüchtlingen getroffen. Genau dies ist aber die Vertiefung der Sackgasse, in der Europa schon lange steckt. Es ist makaber, dass der folgende Stammtischwitz stimmt: Was kosten die Flüchtlinge nach Deutschland? 10 Milliarden! Und was kosten die Flüchtlinge aus Deutschland? 100 Milliarden! Welche Flüchtlinge? Die Steuerflüchtlinge! Und an der Spitze der Europäischen Kommission steht ein Politiker, der lange Zeit nichts anderes zu tun hatte, als dieses System für Steuerflüchtlinge aufzubauen. Was soll man da schon erwarten.

Dennoch gibt es heute viele konkrete Handlungsmöglichkeiten:

Wir können uns alle um eine umfassende Information bemühen. Selbst in den Medien gibt es nicht nur den Mainstream. Die Politik setzt auf unsere Unkenntnis und auf das Vergessen. Zum Beispiel können wir uns daran erinnern, dass der korrupte und total verarmte Staat Kosovo herbeigebombt wurde auf der Grundlage von Lügen und arglistigen Täuschungen. Kein Wunder, dass die Menschen fliehen. Und ich kann es ihnen nicht verdenken, dass sie wenigstens etwas Geld mitnehmen wollen, wenn sie ausgewiesen werden, denn ihre Familien leben und sterben im Elend.

Die EU kann heute das Embargo gegen Syrien aufheben, damit die Kinder wieder Medikamente bekommen.

Deutschland kann ab sofort Waffenlieferungen reduzieren und mehr diplomatische Konfliktlösungen unterstützen.

Ein Einwanderungskorridor für Afrika kann jetzt durch ein Einwanderungsgesetz geschaffen werden.

Die Finanzierung des UNHCR steht auf wackligen Beinen; hier gibt es seit Mittwoch Verbesserungen durch den Europäischen Rat – aber in lächerlichem Umfang im Vergleich zu dem, was die EU durch Handelsverträge profitiert.

Das Einwanderungsgesetz zur Lösung von Arbeitsmarktproblemen könnte schon seit Jahren beschlossen sein – nicht als grundlegende Problemlösung, aber als Weg, um die fürchterlichen Schicksale auf der Sinaihalbinsel, in der Sahara oder im Mittelmeer zu verringern.

Deutschland und die EU müssen sich aus der Verklammerung mit der amerikanischen Kriegstreiberei lösen, denn die Kriege im Nahen Osten sind der Hintergrund, vor dem heute die Flüchtlingsfrage, und damit das Migrationsschicksal Europas zu betrachten ist. Unsere Aufmerksamkeit wird nur kurzfristig geweckt – zum Beispiel seit diesem Wochenende, an dem die Flucht aus Afghanistan wieder einmal bemerkt wurde.

Die Forderung nach Gleichberechtigung kann nicht aufgeteilt werden für einzelne Migrantengruppen. Wer auf der Grundlage eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens, das diese Bezeichnung verdient, hier lebt, ist genauso ein Bürger dieser Republik wie diejenigen, die früher eingewandert sind und diejenigen, die als Arbeitskräfte ins Land geholt wurden oder diejenigen, die schon immer hier leben. Einbürgerung ist der einzige konsequente Weg. Das zeigen die Einwanderungsländer. Es gibt dann in der Folge noch genügend zu tun, damit der Unterschied der Herkunft nicht zur Diskriminierung verwendet wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

Redebeitrag zur Kundgebung gegen die AfD

am 21.11.15 in Mainz

 

 

Meine Damen und Herren,

Eigentlich müsste man gegen die AfD nicht unbedingt demonstrieren und schon gar nicht nachdenken. Denn diese Partei hat nicht die Qualität eines ernsthaften politischen Anliegens. Es handelt sich um ein Sammelbecken von unzufrieden bis rassistisch, von frustriert bis aggressiv, von ängstlich bis militant. Dieses Sammelbecken hat kein politisches Gestaltungsprogramm, es will zurück in eine Vergangenheit, die niemals so gewesen ist, wie es sich die Nationalisten in dieser Partei vorstellen. Und wenn, dann müssen sie schon mehr als 70 Jahre zurückgehen. Auch wenn Europa heute ein jämmerliches Bild abgibt, dann ist es doch noch besser als die Rückkehr zu einem dumpfen Nationalbewusstsein. Diese Partei wird zusammen gehalten von Ressentiments und Affekten, von Demagogen und politischen Konjunkturrittern.

Aber es gibt auch Themen, die diese Partei aufgreift, die besser bearbeitet werden müssen. Dass Europa ein Verein von Wettbewerbsstaaten ist – das ist schon lange bekannt. Wir wissen ja heute, dass Deutschland dies in den Dublin-vereinbarungen besonders ausgiebig genutzt hat. Von Anfang an haben die Staaten, mit der Zustimmung ihrer Bevölkerung, die europäische Bühne genutzt zur Durchsetzung ihrer Interessen. In vielen sogenannten Paketlösungen wurden Interessen gebündelt und zu mehr oder weniger faulen Kompromissen zusammengefügt, so dass am Ende viele europäische Strukturen und Programme vor allem komplex sind. Da ist vieles schon lange nicht mehr verständlich. Die AfD nutzt den europakritischen Affekt – ohne jegliche alternative Lösungen.

In diesen Wochen und Monaten aber greift die AfD vor allem das Thema Migration und die Zuwanderung von Flüchtlingen auf. Die psychische Struktur dieser Partei ist geradezu disponiert für dieses Thema und sie hätte deshalb eher einen Therapeuten nötig als eine ernsthafte politische Auseinandersetzung. Denn sie greift fremdenfeindliche und rassistische Emotionen und Aggressionen auf und gibt ihnen ungehemmt ein Sprachrohr. Und diese Partei strahlt aus. Sie setzt Themen auf die Tagesordnung, die an den Stammtischen schon lange diskutiert werden und verleiht ihnen öffentliche Anerkennung. Sie aktiviert die ohnehin schon aktiven, aber vor allem auch die latenten Hassgefühle und nationalistischen Abgrenzungsbedürfnisse.

Ich spreche in diesem Zusammenhang nicht so sehr von Ängsten und Sorgen. Denn Angst, Furcht und Sorge um die Sicherheit sind auch menschendienliche Gefühle. Wir brauchen sie zum Leben in einer unüberschaubaren Welt. Was die AfD aber bedient, sind zumindest ethnozentrische und egozentrische Muster, mit denen man sich gegen andere durchsetzen will. Die viel beschworene Absicht, dass man Ängste und Sorgen ernstnehmen müsse, ist richtig, aber trivial. Man spricht mit den Menschen, die sich sorgen, und nicht über sie. Man bringt nicht ihre Ängste mit politischer Absicht in die Öffentlichkeit, in der sie dann dramatisiert werden. Das gilt ja nicht nur für die AfD, sondern auch für andere Parteien.

Die AfD bewirkt mit ihrer bloßen Existenz eine ganz praktische Konfrontation der anderen politischen Parteien, die sich zu den Auffassungen der AfD zumindest positionieren müssen. Und weil diese Auffassungen öffentliche Resonanz finden und weil es in allen Parteien ebenso wie in allen Gesellschaftsschichten nationale Orientierungen gibt, sind die Wirkungen der AfD erheblich. Man kann das gegenwärtig in Frankreich sehen, wo ein Präsident, der im Frühjahr noch nicht einmal von einem Fünftel der Bevölkerung Zustimmung erhielt, jetzt als Kriegsherr auftritt. Er übertrumpft die Konservativen und die Nationalisten der Front nationale. Aber wir wissen, was aus politisierten Emotionen entstanden ist seit den Kriegen gegen Afghanistan und den Irak. Bomben bekämpfen vielleicht den Terror, aber sicherlich bringen sie neuen Terror hervor. Durch den Irakkrieg hat sich die Landschaft des Terrors entscheidend verändert.

Wer übrigens den blutrünstigen Text der Marseillaise nicht mitsingen will, findet im Internet das „Lied der freyen Wöllsteiner“ von 1793 auf die gleiche Melodie. Da geht es wirklich um die Freiheit – um welche Freiheiten es insgesamt heute geht – das ist die Frage. Ist es die demokratische Freiheit der Verfassung? Ist es mehr als Konsumismus und Hedonismus? Über die Nachricht “Ein Luxushotel in einem der ärmsten Staaten der Welt wurde überfallen“ sollten wir noch länger nachdenken.

Die AfD wird aber auch bedient und bestärkt in ihren gehässigen Thesen. Sie findet dadurch mehr Anhänger, dass andere politische Akteure nichts tun oder zu viel tun, um ihr das Wasser abzugraben.

Sie wird bedient durch eine Wirtschaft, von der heute kein klares Wort zu hören ist, dass die Verstümmelung des Asylrechts, nämlich die Verkürzung eines ersten Aufenthaltstitels auf ein Jahr, überhaupt keine Perspektive ist für Integration und für die Sicherung des Arbeitskräftepotentials. Seit mehr als einem Jahrzehnt hören wir täglich, dass 6,3 Millionen Arbeitskräfte aus der Zuwanderung gebraucht werden, um die demografische Lücke zu schließen. In diesen Tagen ist es ruhig geworden von den Unternehmern; jetzt ist aber ihre Stimme nötig, um wenigstens mit ökonomisch-rationalen Argumenten die Regierung von ihrem integrationspolitischen Unsinn abzubringen.

Und die AfD wird bedient von den bayrischen Dumpfbacken, die nicht müde werden, die ungarische Regierung in ihrer Menschenfeindlichkeit übertreffen zu wollen. Da gibt es Leute, die zündeln gerne, die produzieren nicht nur heiße Luft, sondern einen Sturm, der kalt die Menschlichkeit und Menschenrechte wegbläst. Auch „Transitzonen“ sind Lager, nichts anderes; heimtückisch verschleierte Begriffsbildung ist das. Wer Obergrenzen fordert, ist entweder ein hemmungsloser Populist, oder aber er will sie wirklich. Dann muss er in der Tat die Bundeswehr aufmarschieren lassen und die Flüchtlinge ertrinken nicht mehr im Mittelmeer, sondern werden an der Grenze erschossen. Überraschend ist nur, dass aus Bayern das alte DDR-Denken mit Mauer und Stacheldraht daherkommt. Wenn wir wirklich eine Verantwortung aus der Geschichte haben, dann die, an dieser Stelle eine Grenze der Demokraten zu ziehen.

Die AfD wird bedient von der CDU/CSU bzw. Teilen davon, die in der Regierung eine militante Opposition inszenieren, statt die Handlungsfähigkeit und auch die Handlungswirksamkeit einer Regierung zu besorgen. (Dass es so geht, zeigt die Regierung in diesem Bundesland.) Sich in verantwortlicher Position der Bundesregierung hinzustellen und so zu tun, als könnten nur die verschärften Gesetze etwas bewirken, aber gleichzeitig die bestehenden Möglichkeiten einer effektiven und konsequenten Politik mit Augenmaß und Menschenwürde nicht oder nur sehr langsam zu nutzen, das ist zerstörerische Politik. Sie schädigt das Vertrauen in den demokratischen Staat und treibt Menschen in die Arme der Rattenfänger von der AfD oder auf die PEGIDA-Demonstrationen. Was bisher an Verschärfungen durchgesetzt wurde und weiterhin droht, das hat keine Probleme gelöst, sondern teilweise nur verschärft. Das gilt auch für die sogenannte Bekämpfung von Fluchtursachen. Wer den autoritären Regimen Geld gibt, stärkt deren Herrscher und macht sie unabhängig von ihrer eigenen Bevölkerung. Die können sie dann umso willkürlicher beherrschen.

Die AfD wird auch bedient von vielen Medien. Seit einer Woche sieht man von morgens bis abends in allen Fernsehprogrammen die immer gleichen Bilder des Schreckens. Aus den Archiven werden die Schreckensbilder von früheren terroristischen Attentaten hervorgeholt und wieder verbreitet – Hauptsache Gewalt, Hauptsache Emotionen, Hauptsache Kanalisierung von Hass und Aggressivität.

Die Dramatisierung durch die Bilder hinterlässt mehr Schrecken als wir im Moment ahnen. Es bildet sich ein stabiles kollektives Unbewusstes heraus, das jederzeit mobilisiert werden kann. Vor allem, und dies ist ein altes nationalistisches Motiv, kommt alles Unheil „von draußen“, aus dem Ausland. Dabei ist gerade der Terror schon lange da, von uns selbst erzeugt: sowohl in den banlieus als auch in den nationalistischen Milieus – nicht nur in Ostdeutschland. In der ungehemmten Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Werbeeinnahmen wird die Berichterstattung der Medien immer hektischer und aufgeregter und produziert so eine Steigerung von Ängsten. Und selbst wenn immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass „die meisten Muslime in Deutschland friedfertig“ seien – die Bilder sprechen eine andere Sprache. Und was heißt: „die meisten“? Auch die Sprache ist verräterisch.

Und schließlich wird das Geschäft der AfD auch besorgt von wildgewordenen Demonstranten, wenn sie im Protest gewalttätig werden, statt die Wege eines zivilen und demokratischen Ungehorsams konsequent zu Ende zu gehen. Und es ist doch geradezu lächerlich, wenn heute neun verschiedene Gegendemonstrationen angemeldet wurden. Was für ein Hickhack schon vor dem Auftreten der AfD! Die alte Krankheit der Linken, ganz bestimmt zu wissen, was richtig ist, breitet sich aus und führt zur Unwirksamkeit.  Aber bei aller Wut, Franz-Josef Degenhardt hat das gesungen, bei aller Wut: vergesst das nicht: wir wissen wer unser Gegner ist.

Wie ethnozentrisch ist die Sozialpädagogik?

Symposium zum 80. Geburtstag von Hans Thiersch an der Universität Lüneburg, 6.6.2015

 

Die Fragestellung mag überraschen angesichts der Beobachtung, dass insbesondere in der Pädagogik und in der Sozialpädagogik in den zurückliegenden 30 bis 40 Jahren Anstrengungen unternommen worden sind, helfend und unterstützend auf die besonderen Notstände im Zusammenhang mit Einwanderung einzugehen. Diese Anstrengungen wurden zunächst in der Praxis der außerschulischen Unterstützung und schulischer Verbesserungsversuche unternommen. Die wissenschaftliche Klärung der mit Migration zusammenhängenden pädagogischen Fragen war dann Nacharbeit, teilweise affirmativ, teilweise kritisch zur entwickelten Praxis. Dabei konkurrierten konzeptionelle Vorstellungen um die beste und die am besten begründete Programmatik für den Umgang mit Migrationsfolgen. Die kritische Auseinandersetzung mit den Mustern, die in die Konzepte Eingang gefunden haben, wurde punktuell geführt, hat aber vor allem die beruflichen Praktiken kaum erreicht. Insofern ist die Frage, welche problematischen Muster in die sozialpädagogischen Schriften eingegangen sind, immer noch und immer wieder aktuell.

Als „ethnozentrisch“ werden in diesem Zusammenhang nicht nur diejenigen Muster der Wahrnehmung bezeichnet, die sich explizit auf Nation oder Volk, also verallgemeinerte Kollektive beziehen, sondern auch Bewertungen, die die Normativität der je eigenen Lebenswelt als unbefragt gültigen Bewertungsrahmen zu Grunde legen.

Ich betrachte meinen Beitrag als einen Mosaikstein in der laufenden und weiterhin notwendigen Diskussion. Ich gehe aus von drei Beobachtungen, mache eine methodische Bemerkung, die eine Anleihe bei der Lebensweltorientierten Sozialpädagogik darstellt und gehe dann auf vier empirische Beispiele zur Prüfung meiner Fragestellung ein. Am Ende versuche ich, eine abschließende These zu formulieren.

 

Drei Beobachtungen

Beim letzten Bundeskongress Soziale Arbeit in Hamburg habe ich beim Blick über die Köpfe der Anwesenden bei den Plenumsveranstaltungen die Kopftücher vermisst. Natürlich ist diese Wahrnehmung zunächst meiner eigenen Erwartung geschuldet, eine selbstverständliche Präsenz von Musliminnen, die sich als solche zu erkennen geben, vorzufinden. Und das Fehlen von Kopftüchern, soweit diese Beobachtung überhaupt zutreffend ist, sagt nichts darüber aus, wie viele Musliminnen bzw. Menschen mit Migrationshintergrund anwesend gewesen sind. Begründet und erklärbar wird diese Erwartung nicht nur mit meinen beruflichen Arbeitsschwerpunkten, sondern auch mit meinen Alltagserfahrungen, in denen in den Feldern der Sozialen Arbeit zunehmend Musliminnen aktiv tätig sind, ebenso im Studium der Sozialpädagogik. Besonders aber sind Musliminnen mit oder ohne Kopftuch Teil der Klientel der Sozialpädagogik in allen Praxisfeldern. Bei den Berufstätigen sind sie zweifellos nicht entsprechend repräsentiert, möglicherweise ist aber auch das öffentliche Milieu der Sozialpädagogik eines, in dem spätfeministische Frauenbilder es erschweren, sich in anerkannter Weise bewegen zu können. Dies könnte die Beobachtung erklären, falls sie richtig ist, und sie wäre nur mit einem erheblichen Schuss Spekulation richtig.

Eine zweite Beobachtung bezieht sich auf die gegenwärtige Aufnahme von Flüchtlingen. Insbesondere in der Wahrnehmung von unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen beherrscht die Annahme von Traumata die kollektive öffentliche Anamnese. Auch diejenigen, die keinen jungen Flüchtling kennen oder mit ihm arbeiten, können sich auf Grund des öffentlichen Meinungsbildes sicher sein, dass traumatische Belastungen die Lebenssituation der Flüchtlinge kennzeichnen. Die Bilder, die die Medien transportieren, fokussieren nur auf dramatische Situationen, deren Bewältigung dem Beobachter als schier unmöglich erscheint, zumindest ohne besonderen Schaden zu nehmen. Die Formulierungen „viele sind traumatisiert“ oder „oft ist mit Flucht ein Trauma verbunden“ setzen die mediale Anamnese in eine scheinbar plausible Diagnose um. Für diejenigen, die in die Soziale Arbeit mit jungen Flüchtlingen einsteigen, und es sind auf Grund der Besonderheit des Arbeitsfeldes häufig Berufsanfängerinnen, bedeutet das öffentlich markierte Vorausurteil eine Belastung, wissen sie doch, dass pädagogische Konzepte nur sehr begrenzt oder gar nicht tatsächliche therapeutische Bedarfe abdecken können. Betrachtet man nun näher die herrschende Wahrnehmung, dann kann man ihre Besonderheit vor allem auf die lebensweltliche Fundierung der Wahrnehmungsmuster zurückführen. Im eigenen Erfahrungshorizont erscheinen die Bilder der Flucht als schrecklich und sie aktivieren Bewältigungsängste und starke Gefühle des hilflosen Ausgesetztseins. Weil in der Struktur der eigenen Lebenswelt die Ressourcen für die Bewältigung großer Belastungen noch nicht erlebt wurden, wird als einziges Bewältigungsmuster das des Traumas projiziert.

Auch eine dritte Beobachtung beruht nicht darauf, dass den Milieus der Sozialen Arbeit schlicht Rassismus vorgeworfen wird, sondern wohl darauf, dass die Kultur der Empathie und des Gutmachenwollens die Befangenheit in den Mustern der eigenen Lebenswelt verdeckt. So wird generell – von der Polizei bis zur Gefängnisseelsorge, vom Kindergarten bis zur Schule – der Bedarf an Pädagogen und Pädagoginnen „mit Migrationshintergrund“ artikuliert. Der Zweck dieses speziellen Personals wird durchgehend auf die Funktion eines guten Umgangs mit „Klientel mit Migrationshintergrund“ reduziert. Auch wenn die Sorge um gute Dienstleistungen für bestimmte Personengruppen dabei im Vordergrund stehen kann, ist die Delegation der Integrationsaufgabe an die Repräsentanten der zu Integrierenden faktisch eine Segregation. Die Repräsentanten der einheimischen Pädagogik entledigen sich der Aufgabe der notwendigen Reflexion des Eigenen in der Interaktion mit als fremd definierten Personen und stürzen die Fachkräfte mit Migrationshintergrund in die paradoxe Situation, dass sie etwas repräsentieren sollen was andere sind. Denn ihre Besonderung als Fachkräfte mit Migrationshintergrund kann nur als halbierte Integration verstanden werden. Sie sind nicht der übliche Lehrer, sondern eben der besondere.

 

 

Eine methodische Zwischenbemerkung

Die Beobachtungen sind selbstverständlich widersprüchlich. Denn sie thematisieren sowohl eine unzureichende als auch eine übertriebene Wahrnehmung von Differenz. Was aber als übertrieben oder als unzureichend verstanden werden kann, erscheint willkürlich. Erst in einer kritischen und empirischen Auseinandersetzung können solche Behauptungen, was als unzureichend gelten soll, konkretisiert werden. Eine ähnliche Aufgabe sieht die Soziale Arbeit vor sich, wenn sie mit dem Anspruch der Lebensweltorientierung antritt.

Versteht man Lebensweltorientierung als ein „pragmatisches Konzept“ (Grunwald/Thiersch 2015, S. 936), dann bezieht es sich auf das sozialpädagogische Handeln, das sich dem Anspruch unterwirft, sich explizit und reflektiert, anerkennend und zugleich kritisch auf die Adressaten der Sozialen Arbeit und ihre Lebenswelt zu beziehen. Dabei ist die lebensweltliche Eingebundenheit des pädagogisch Handelnden Voraussetzung seiner Handlungsentwürfe und deren Realisierung. Diese lebensweltliche Bindung des Handelnden selbst kann Ermöglichung eines gelingenden Bezugs zur Lebenswelt der Adressaten ebenso sein wie eines misslingenden Bezugs, weil der pädagogisch Handelnde in den Befangenheiten seiner Lebenswelt verstrickt bleibt. Diese Verstricktheit in die eigene Lebenswelt und die besondere Formierung des eigenen Lebenslaufs kann inzwischen, das heißt nach einigen biografischen Studien zu den Sozialarbeitern und Sozialpädagoginnen, als ein besonderes Hindernis gelingenderer Arbeitsbeziehungen gelten (vgl. beispielsweise Melter 2006).

Versteht man aber die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ als die Theorie des pragmatischen Konzepts, dann kann man ihre analytischen Möglichkeiten nutzen und nicht nur die Verstricktheiten des performativen Handelns untersuchen, sondern auch die wissenschaftlichen Äußerungen im akademischen Sprachhandeln. Für beide Dimensionen stellt sich die Frage, wie Differenzen wahrgenommen werden und wie die Strukturen der je eigenen Lebenswelt diese Wahrnehmung beeinflussen. Diese Art der Betrachtung, die die Reproduktion von gesellschaftlichem Bewusstsein und nicht innerwissenschaftliche Gedankenströme untersucht, thematisiert also einen Diskurs.

Die Texte zur Sozialen Arbeit stellen dabei eine bestimmte Diskursebene dar. Sie vermitteln thematisch und inhaltlich zwischen teils wissenschaftlichen, teils praktischen Akteuren und der nachwachsenden Generation von Sozialpädagogen und Sozialarbeiterinnen in der Phase des Studiums und begrenzt auf den Ort der Hochschule. Eine zentrale Interpretationsleistung in der Vermittlung erbringen die Dozenten und Dozentinnen, die die Texte einsetzen, kritisieren oder bestärken in Bezug auf ihren Inhalt und ihre Intentionen. Auch die Studierenden können die Texte affirmativ oder ablehnend aufnehmen. Insoweit sind die Inhalte der Texte in der sozialpädagogischen Literatur von begrenzter Relevanz. Gleichzeitig aber sind sie Repräsentanten einer Bildungskultur, die den Gesetzen des Buchmarktes unterworfen ist. Insofern in den Texten eine für die Herausbildung von gesellschaftlichem Bewusstsein und politischer Handlungsbereitschaft relevante Ebene eines bedeutsamen Akteursnetzwerks (pädagogische Profession und nachwachsende Generation, Wissenschaft und öffentliche Meinung) untersucht werden kann, ist es für eine Diskursanalyse besonders geeignet.

 

Vier empirische Beispiele

Ein Beispiel für die starke Wirkung der eigenen Lebenswelt finden wir bei Klaus Mollenhauer (1996). So wird von ihm mit großer Selbstverständlichkeit "Interkulturalität" als eine von vier zentralen theoretischen Problemlagen bestimmt, wobei das Problem lediglich als "Verschiedenheit kultureller Herkünfte" (Mollenhauer 1996, S. 880) bestimmt wird und als sichere Grundlage für die Unterscheidung typischer sozialpädagogischer Aufgaben erscheint. Als Beleg, um die Zentralität des Themas als theoretische Aufgabe zu begründen, wird auf den Jahresbericht der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1995 hingewiesen, in dem fünf zurechenbare Projekte aufgeführt sind. Der Beleg ist für eine Satire gut - angesichts der Reichweite des programmatischen Anspruchs.

 

Das Problem ist nun nicht die Zuschreibung von Relevanzen, sondern die Selbstverständlichkeit der Definition als "Kulturproblem", das auf der Annahme einer grundlegenden Differenz zwischen Nationalkulturen beruht. Die in den Blick genommene Person wird auf ganz bestimmte Weise wahrgenommen und definiert, nämlich schon vorab als Fall einer allgemeinen Kategorie. Der von Mollenhauer erwähnte Fall, nämlich die "Situation eines 16-jährigen türkischen Mädchens, in Berlin-Kreuzberg lebend und Besucherin einer Jugendfrei­zeiteinrichtung" (Mollenhauer 1996, S. 881), kann zwar auch kulturelle Dimensionen erfassen, müsste aber zugleich und vordinglich unter dem Gesichtspunkt geprüft werden, ob und inwiefern sich die Zuordnung des Problems zu "Interkulturalität" überhaupt begründen lässt. Woher kommt aber die Sicherheit für die Vorwegkonstruktion einer grundlegenden Differenz zu anderen sozialpädagogischen Situationen und sozialpädagogisch relevanten Personen? Es kann nur das Befremdungsgefühl im Rahmen der eigenen Lebenswelt sein, das diese Sicherheit vermittelt. Während auf „Augenscheinliches“ gezeigt werden kann, nämlich auf Aussehen oder Sprachhandeln usw., bleibt der Horizont der Fremdheitswahrnehmung unthematisiert. Dass ähnliche Themen in Forschungsprojekten thematisiert werden, erscheint als hinreichende Validierung im Wissenschaftssystem. Wenn schon DFG-prämiert über das Thema geforscht wird, dann muss da etwas dran sein. Das hier betrachtete Beispiel erweist sich also – unter anderem – als ein Beispiel der Befangenheit in der Lebenswelt der wissenschaftlichen Kommunikationsgemeinschaft. Das Faktum einer DFG-geförderten Forschung erweist sich als Signal für die Dignität einer Fragestellung bzw. genauer: für die eigenständige, kategorial gerechtfertigte Unterscheidung von Forschungsgegenständen. Diese Unterscheidung schreibt sich in das alltägliche Klassifizierungsschema des Wissenschaftlers ein und ordnet seine Welt, das heißt den Ausschnitt seiner beruflich bearbeiteten Welt.

 

 

Ein anderes Beispiel ist eine Passage im 14. Kinder- und Jugendbericht, der mit einer anschaulichen Reflexion über den Wandel des Aufwachsens in Deutschland eröffnet wird. In diesem einleitenden Text werden die später differenziert referierten Studien zur Lage der Kindheit und Jugend zusammengefasst. Dort findet sich auch ein Abschnitt zur Migration und zum Aufwachsen mit Migrationshintergrund, aber spezielle Aspekte werden nur dieser besonderen Gruppe zugeschrieben. So auch in der Einleitung:

 

„In Deutschland wächst eine erhebliche Zahl an Kindern und Jugendlichen auf, für die es zum Alltag gehört, dass ihre Eltern nicht hierzulande geboren sind und dass ihre Großeltern zumindest zum Teil nicht hier in Deutschland leben. Sie erleben Heterogenität in vielen alltäglichen Dingen von Kindesbeinen an. Sie entwickeln daraus Stärken und Kompetenzen, sie müssen aber oft auch mit den Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten, mit den widerstreitenden Mustern der Lebensführung ganz unterschiedlicher Kulturen, Lebensstile und Wertsysteme zurechtkommen, sie erleben die Ambivalenzen kultureller Heterogenität vielfach am eigenen Leib. Die traditionell enge Verwobenheit von Lebensort, Lebensalltag und Lebensstilen ist ihnen fremd. Vermeintliche Selbstverständlichkeiten verlieren ihre Eindeutigkeit und werden eher zu einer allgegenwärtigen Differenzerfahrung.“ (S. 56)

 

Gerade an diesem Text kann gezeigt werden, dass es nicht um richtig oder falsch einer Situationsbeschreibung geht, auch dass es nicht um mangelndes Verständnis für die Lage bestimmter Gruppen von Kindern und Jugendlichen geht. Warum aber werden bestimmte Merkmale einer Gruppe zugeschrieben oder nur einer Gruppe? Der Jugendbericht analysiert das Aufwachsen in modernen Gesellschaften so, dass die genannten Erfahrungsmerkmale für alle Kinder zutreffen, dass die kulturelle und soziale Differenziertheit der Gesellschaft als universell verbreitet angenommen werden kann. In diesen strukturellen Beschreibungen werden diese personenunabhängig, also nicht aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen beschrieben. Hier aber wird scheinbar die Perspektive der Kinder eingenommen, auch wenn man diese rein hypothetisch formulieren muss. Die Erfahrung von Fremdheit wird ihnen zugeschrieben, die sie doch in Deutschland schon aufgewachsen sind. Eine einfache Umkehr der Wahrnehmungsperspektive, subjektiv möglicherweise aus dem Bestreben verstehen zu wollen motiviert, verschiebt die Fremdheitswahrnehmung aus der Beobachterperspektive in die Beobachtetenperspektive. Heterogenität, Widersprüchlichkeiten, Ungleichzeitigkeiten, widerstreitende Muster – alle diese Strukturmerkmale der einheimischen Gesellschaft werden als verdichteter Erfahrungshorizont einer ausgewählten und wohldefinierten Gruppe zugeschrieben. Vor allem die behauptete „enge Verwobenheit von Lebensort, Lebensalltag und Lebensstilen“ ist bemerkenswert. Üblicherweise wird mit dieser Trias von Elementen der Lebenswelt „Heimat“ beschrieben und vielleicht handelt es sich hier um eine Projektion von Harmonievorstellungen oder –wünschen auf eine Gruppe, die als Migrantengruppe „offensichtlich“, nämlich ganz von außen betrachtet, diese Harmonie nicht erleben kann.

Insbesondere zu dieser Vorstellung von der Harmonie lebensweltlicher Strukturen gibt es nicht nur eine lange Kritik sozialwissenschaftlicher Studien. Gerade im Hinblick auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, deren Vorfahren eingewandert sind, zeigen empirische Untersuchungen, wie sie sich ihre lokale Lebenswelt aneignen, wenn ihre Zugehörigkeit zu diesem Lebensort nicht bestritten wird. Eine zentrale Bedingung für die Möglichkeit der beschriebenen Besonderheiten wird ausgeblendet, nämlich die Vorenthaltung von Selbstverständlichkeit.

„Hierzulande“ ist der Ort, von dem aus die Erkenntnis über Migrantenkinder formuliert wird, und wer hierher kommt, muss wohl Fremdheitserfahrungen machen. Auch dass Selbstverständlichkeiten keine sind, sondern ihre Eindeutigkeit verlieren, ist eine Beobachtung, die unschwer den zutreffenden allgemeinen Gesellschaftsanalysen des Kinder- und Jugendberichts zugeordnet werden kann. Sie wird hier aber gedreht und auf eine Personengruppe fokussiert. Das Analysieren in Gegensätzen, das sich häufig im Jugendbericht findet, wird in diesem Abschnitt auf eine zentralisierende Problemperspektive verengt.

 

Auch in einer neueren, an sich verdienstvollen Dissertation in der Tradition der Mädchenhausbewegung findet sich die Dominanz eigenkultureller Wertsetzungen bei der Wahrnehmung des Fremden. Der „Rollenzerfall migrierter Personen“ (Kirchhart 2008, S. 220) rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung und bildet eine Interpretationsfolie für heterogene Beobachtungen. Zwar werden ähnliche Problemlagen, die zur Inobhutnahme führen, bei allen betroffenen Mädchen festgestellt und laufen die empirisch feststellbaren Differenzierungen entlang anderer Kriterien, doch wird für die Mädchen mit Migrationshintergrund ein akzentuiertes Bild gezeichnet: „Autoritär-restriktives Erziehungsverhalten der Eltern greift in einem traditionellen und partikular organisierten engmaschigen sozialen Netz, das der modern und universalistisch strukturierten Lebenswelt deutscher Städte widerspricht.“ (Kirchhart 2008, S. 60) Die als Gegenwelt zur Welt der Migranten konstruierte Eigenwelt der Moderne müsste ja spätestens dann problematisiert werden, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen für die Notwendigkeit von Inobhutnahme gerade von Mädchen analysiert werden. So aber kann autoritäres und patriarchalisches Erziehungsverhalten der Welt der Anderen zugerechnet werden.

 

Ein letztes Beispiel kommt zwar nicht direkt aus der Sozialpädagogik, aber die Soziologie des Klaus Hurrelmanns wurde vielfach rezipiert. In seinem jüngsten Buch hat der zusammen mit dem Journalisten Erik Albrecht eine reißerische Abhandlung über die Jugend von heute geschrieben mit dem Titel: „Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert“ (2014). Oberflächliche Verallgemeinerungen, Charakterisierungen wie in der Bildzeitung, aufgeblasene Trivialitäten und Lobpreisungen der schönen neuen Welt kennzeichnen dieses Elaborat. In dieser Form ist Jugendsoziologie verkommen zu einer Apologetik der Phänomene. Natürlich kommen auch die „Berufskritiker“ zu Wort, wobei an erster Stelle die Pädagogen genannt werden. Und typischerweise kommt der Wandel durch Einwanderung nur an einer einzigen Stelle (später, nämlich S. 61, ist von speziellen Programmen für Jugendliche mit Migrationshintergrund die Rede, die aufgesucht werden müssen, weil sie zu Bildungsangeboten nicht kommen) auf den 250 Seiten zu Wort:

„Die besonders schwachen Schüler stammen ganz überwiegend aus Familien, in denen Vater und Mutter selbst nur wenig gebildet sind. Viele von ihnen sind nach Deutschland eingewandert. Sie sind meist schon längere Zeit arbeitslos, verhältnismäßig arm und oft auf staatliche Unterstützung angewiesen. Im Laufe der Jahre geraten sie in eine verfestigte randständige Lage und sehen keine Chance mehr, sich durch eigene Anstrengungen daraus zu befreien.“ (S. 51) Diese Gruppen verursachen dann „riesige Summen von Wohlfahrtsaufwendungen und darüber hinaus große Produktionsausfälle“ (S. 225). Das „Heer von Enttäuschten und Ausgestoßenen“ (S. 226) bildet eine „soziale Unterklasse von unmotivierten Jugendlichen“, das nicht mehr auf „die eigene Wettbewerbsfähigkeit“ (S. 225) setzt.

Auch hier wird das Glück der modernen Seligkeit getrübt durch die Invasion der Rückständigkeit, die eigene Welt des supertechnologischen Fortschritts und der revolutionären Anpassung der Jugend an diesen Fortschritt der schönen Medienwelt wird belastet durch die Einwanderung der Dummheit.

 

 

Abschließende These

 

Natürlich rechtfertigen die willkürliche Auswahl der Beispiele und die unsystematischen Beobachtungen nur eine spekulative These. Auch ist darauf hinzuweisen, dass der Gedankengang in Bezug auf die allgemeine Diskussion und den öffentlichen Diskurs im pädagogischen Feld schon mehrfach thematisiert wurde. (vgl. die beiden Bände von Direm/Mecheril 2009 und Direm u.a. 2010; neuerdings: Buchenhorst 2015). Aber der Transformationsprozess der Gesellschaft durch Einwanderung und die Veränderung der pädagogischen Praxis schreiten voran und lassen die in den verschiedenen Phasen der Bewusstwerdung in den letzten vier Jahrzehnten entwickelten Deutungsmuster schnell veralten. Die in den Lebenswelten erworbenen Deutungsschemata veralten schneller als sie kulturell reflektiert und verändert werden können. Das wirft für die Pädagogik und die Erziehungswissenschaft Dauerprobleme und –aufgaben auf. Während die These vom cultural lag ursprünglich bezogen war auf das Verhältnis von sich schnell wandelnder Technologie und kultureller Aneignung dieses Wandels, kann sie heute auch auf das Verhältnis von Gesellschaft und Lebenswelt bezogen werden. Die Dynamik eines digitalisierten globalen Kapitalismus und seine mediale Materialität durchdringen traditionelle Grenzen und Begrenzungen, soziale Definitionsräume und kulturelle Interpretationsrahmen und machen permanente Re-Interpretationen notwendig. Der lebhafte Handel regressiver Deutungsangebote verdeutlicht drastisch die Unmöglichkeit einfacher Anpassungs- und Nachvollzugsstrategien.  Dabei können die Interaktionsräume der beruflichen Praxis als Aushandlungsarenen rekonstruiert werden, in denen scheinbar keine Ordnungen mehr zum Zuge kommen. Tatsächlich setzen sich lebensweltliche Traditionen des eigenen biografischen Zusammenhangs ebenso durch wie technologische Scheinlösungen. Von der technischen Ausstattung des Kinderzimmers angefangen mit seinen digitalisierten Animations- und Überwachungsspielgeräten bis hin zum Wohnraum für die ganz Alten, die elektronisch rund um die Uhr kontrolliert werden, dominieren die, man kann das nur ironisch zitieren, „versachlichten“ Muster der Sozialität. Umstandslos setzt sich in dieser Welt der uneingeschränkten Kontrolle das Selbstdeutungsmuster einer modernen, technisch und elektronisch perfekten Welt durch, mit dem die Lebenswelt der modernen Menschen strukturiert wird. Die Entfremdungsgefühle der kolonialisierten Lebenswelt können dann unreflektiert auf das personalisierte Fremde projiziert werden. Frauen mit Kopftuch werden so zum Inbegriff des Rückständigen und Gefährlichen. Für die Fälle der Beratung und der Erziehung wird mehr denn je die Reflexion auf die eigenen lebensweltlichen Erfahrungen bedeutsam, die in einem verwissenschaftlichen Nachdenken über das gute Leben Stützung benötigt. Denn wenn dieser Horizont unbefragt Geltung hat, dann wird das Eigensinnige des Fremden zusammen mit seiner Vorstellung vom guten Leben einer kolonialistischen Moderne unterworfen oder externalisiert.

Mehr denn je gehören diese Fragen in die Ausbildung der Sozialen Berufe. Denn die wenigen empirischen Studien zum tatsächlichen pädagogischen Handeln in sozialpädagogischen Einrichtungen stellen „kulturalistische Argumentationsweisen“ (Nortman 2010) oder rassistische Vernachlässigungen der Subjektperspektive (Melter 2006) fest. Dabei zeigt sich, dass auch der Interkulturalismus als generalisierte Handlungsstrategie die eigenen Befangenheiten ausblendet und sich anheischig macht, den anderen besser zu verstehen als er es selbst vermag. Diese Überheblichkeit aber ist eine spezifische Tradition der Sozialen Berufe, die schon immer mit Differenz umgehen müssen. Sie können sie weder wegdefinieren noch pathologisieren noch kulturalisieren. Diese Einsicht in der Tradition von „Etwas fehlt“ (Brumlik/Keckeisen 1976) ist immer wieder zu erneuern. Die Lebensweltorientierung, die ja gerade weder affirmative noch abweisende professionelle Handlungen  begründen will (neuerdings pointiert formuliert von Otto/Ziegler 2015), kann dabei hilfreich sein. Wie eine in diesem Sinne analytisch differenzierte Reflexion von Erfahrungen geht, hat Astrid Woog in ihrer Dissertation (1998) gezeigt. Allgemeines (die Prinzipien guter Sozialer Arbeit) und Besonderes (die spezifische soziokulturelle „Einbettung“ einer Familie) bleiben in einer Balance, die weder zu Gunsten einer Kulturalisierung noch im Sinne eines „farbenblinden Liberalismus“ aufgelöst wird.

 

 

Literatur

 

Brumlik,M./Keckeisen,W. (1976): Etwas fehlt. Zur Kritik und Bestimmung von Hilfsbedürftigkeit für die Sozialpädagogik. In: Kriminologisches Journal 8, S. 241 – 262.

 

Buchenhorst, R. (Hrsg.) (2015): Von Fremdheit lernen. Zum produktiven Umgang mit Erfahrungen des Fremden im Kontext der Globalisierung, Bielefeld.

 

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. (Bundestagsdrucksache 17/12200)

 

Direm,I /Mecheril,P.(Hrsg.) (2009): Migration und Bildung. Soziologische und erziehungswissenschaftliche Schlaglichter. Münster u.a.

 

Dirim,I./Gomolla,M./Hornberg,S./Mecheril,P./Stojanov,K.(Hrsg.) (2010): Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung, Münster u.a.

 

Grundwald, K./Thiersch, H. (2015): Lebensweltorientierung. In: Otto, H.-U. /Thiersch, H. (Hrsg.) (2015): Handbuch Soziale Arbeit. 5. Erweiterte Auflage, München/Basel, S. 934-943.

Hurrelmann, K./Albrecht, E. (2014): Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert. Weinheim und Basel.

Kirchhart, St. (2008): Inobhutnahme in Theorie und Praxis. Grundlagen der stationären Krisenintervention in der Jugendhilfe und empirische Untersuchung in einer Inobhutnahmeeinrichtung für Mädchen, Bad Heilbrunn

Melter,C.(2006): Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit. Münster u.a.

Mollenhauer, K. (1996): Kinder- und Jugendhilfe. Theorie der Sozialpädagogik - ein thematisch-kritischer Grundriß. In: Zeitschrift für Pädagogik, 42. Jg., S. 870 - 886.

Norman, A.(2010): „Migrationshintergrund ist halt auch irgendwie Thema“. Eltern mit Migrationshintergrund im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Freiburg im Breisgau.

 

Ogburn, W.F.: Die Theorie der kulturellen Phasenverschiebung (lag). In: Ders./Duncan, D.O. (Hrsg.): Kultur und sozialer Wandel. Ausgewählte Schriften („On culture and social change“). (Soziologische Texte; Bd. 56), Neuwied am Rhein 1969, S. 134–145.

 

Otto, H.-U./Ziegler, H. (2015): Soziale Arbeit als emanzipatorische Sozialwissenschaft. Ein radikalisiertes Programm der Lebensweltorientierung. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 13, S. 193 – 205.

 

Woog, A. (1998): Sozialpädagogische Familienhilfe. Weinheim.

 

 

 

 

 

Kinder, Flucht und Pädagogik

Vortrag bei der Fachtagung „Was brauchen Kinder nach der Flucht?“ am 21. April 2016 in Mainz

 

Meine Damen und Herren!

Das Wichtigste zuerst: Blicken wir auf die Brille, die wir aufhaben. Das Bild von Kindern auf der Flucht ist eindeutig. Kinder sind in jedem Fall die Opfer der Verhältnisse. Die Opfer in Krieg und Zerstörung, die Opfer von Gewalt und Vertreibung. Seit vielen Monaten sehen wir in den Medien nur die Bilder des Grauens, in dem die Kinder mittendrin und häufig die ersten Opfer sind. Keinem einigermaßen empfindsamen Menschen wird das Bild des ertrunkenen Kindes an einem Strand in Griechenland aus dem Gedächtnis verschwinden. Und wenn wir den Bericht eines Arztes lesen, den eine Frau aufsucht, weil in ihrem Bauch das Kind sich nicht mehr bewegt – und wir erfahren, dass diese Frau auf der Überfahrt nach Griechenland zwei Kinder verloren hat, dann steigert das Bild in uns die Betroffenheit zur Wut und zum Zorn über diese Umstände des Lebens und Sterbens.

Aber wir, also diese ganze Gesellschaft, machen so weiter wie bisher. Die Fluchtwege werden versperrt, die Fahrten über das Mittelmeer werden länger und gefährlicher. 400 Menschen sind in dieser Woche ertrunken. Die Versperrung der Fluchtwege treibt die Konjunktur der Schlepper an; sie verdienen immer mehr. Der angebliche Kampf gegen Schleuser ist eine Farce. Die Wege, um zu einem vermeintlich sicheren Punkt der Abfahrt über das Mittelmeer zu kommen, werden länger, teurer und auch gefährlicher. Das juckt in Wirklichkeit nicht sehr viele Menschen in Europa. Das Hemd ist uns näher als die Not in den Kriegsgebieten. Und vor allem unsere billigen Lebensmittel, die tollen Kreuzfahrten im Mittelmeer und die bequemen Reisen an alle exotischen Orte der Welt – auf die möchten wir nicht verzichten.

Und der Blick auf die Opferkinder wird gelegentlich irritiert. Wir sehen, dass die Kinder in Idomeni miteinander spielen, dass sie in der Matschepampe fröhlich spielen, wie es die hiesigen Kinder verboten bekommen. Wir sehen die wenigen Kinder in Kobane bei ihren Streifzügen in den Ruinen und Trümmern. Die Flucht erscheint gelegentlich wie ein großes Abenteuer, mit vielen anderen Kindern gemeinsam, im Schutz der Familie und der Verwandtschaft. Trotz der Entbehrungen und Belastungen zeigen sich die Kinder stolz und selbstbewusst über das, was sie können. Wenn die modische Rede von der agency, der Handlungsmächtigkeit, einen Sinn hat, dann trifft dies für die Kinder der Flucht zu.

Und noch einmal werden die Bilder von den Kindern irritiert. Kinder werden zu einem Mittel im Kampf um Asyl. Die Eltern in Idomeni und anderswo haben ihre Kinder mit Plakaten ausgestattet mit Aufschriften in Deutsch. Sobald irgendwo eine Fernsehkamera erscheint, werden die Kinder ihr zugewandt und zum Rufen aufgefordert. Die Kinder werden für den Willen, aber auch für die Verzweiflung der Eltern instrumentalisiert. Und manche Spendenaktion verwendet die Kinderbilder zur Aquisition von Geld. Pro Asyl dagegen informiert zwar politisch, aber verwendet auch dazu das Bild von den Kindern als Opfer. So heißt es in einem Aufruf Mitte März: „In Griechenland sitzen mittlerweile schätzungsweise 42.000 Menschen fest, mehr als 13.000 davon harren momentan direkt an der Grenze in Idomeni aus – darunter Menschen mit Behinderungen, Alte, Schwangere und sogar Neugeborene. Insgesamt wird geschätzt, dass die Hälfte der Flüchtlinge, die sich momentan in Idomeni befinden, Kinder sind. Für sie ist es im nasskalten Dreck des provisorischen Zeltcamps besonders schlimm: Einige wurden bereits mit Atemproblemen, schweren Erkältungen oder einem Magen-Darm-Virus ins Bezirkskrankenhaus gebracht.“ (Pro Asyl, 18.3.2016)

Ich nenne die Reflexion auf unsere Bilder im Kopf die erste Aufgabe, weil die mediengemachten Bilder unsere Motivationen anstacheln, helfen zu wollen, wo Not herrscht. Aber der typische Blick der Willkommenskultur erfasst nur eine Seite der Medaille und macht die Helfer und Helferinnen nicht nur verletzlich, sondern auch anfällig für eine Haltung der mildtätigen Zuwendung. Diese macht die Kinder nach der Flucht zu Objekten unserer Fürsorge, wird aber in vielen Fällen einer ernsthaften Belastungsprobe unterzogen, wenn wir erleben, wie widerständig Kinder und Erwachsene gegenüber manchem sind, was wir ihnen zukommen lassen wollen.

Es gibt übrigens auch realistische Bilder: Ein Bild (Zeitonline 3.4.2016) kann aufklärerisch sein, mehr als alle Worte. An einem Strand auf Fuerteventura sonnen sich drei Urlauber im Hintergrund des Bildes, im Vordergrund kriecht ein Flüchtling aus Afrika, offensichtlich total erschöpft, über den heißen Sand. Also erst wenn wir „uns“ miteinbeziehen und abbilden lassen, entsteht ein Zusammenhang.

Es geht dabei nicht um einen „realistischen“ Blick auf Kinder und Jugendliche. Es geht um die selbstkritische Erweiterung unserer Wahrnehmung, um ihre selbstkritische Reflexion. Denn was die Realität und was wessen Realität ist, das wissen wir nicht. Aber wir können uns dem einzelnen Kind zuwenden, es in seinem widersprüchlichen Kontext wahrnehmen und ihm die pädagogische Förderung zukommen lassen, die es um seiner selbst willen braucht. Nicht wir entwickeln das Kind, sondern es entwickelt sich selbst, und wir können gar nicht genug Respekt haben vor dem, was es auf sich genommen hat. Dass dieses differenzierte Bild und diese pädagogische Haltung an Grenzen kommen, davon wird aber im Verlauf des Vortrags und vor allem im Verlauf der Tagung noch die Rede sein.

 

Kinder

Wir haben einen hervorragenden rechtlichen Rahmen, um das zu geben, was Kinder nach der Flucht brauchen. Deutschland ist eines von 195 Ländern, die die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet haben. Es war schon sehr schäbig gewesen, dass eines der reichsten Länder bis 2010 Vorbehalte formuliert hatte, die gerade die Verpflichtung für Kinder auf und nach der Flucht betrafen. Bei der Realisierung des Rechts auf Bildung gelten jetzt überhaupt keine Einschränkungen mehr. Das Recht des Kindes auf Bildung steht jedem Kind ohne Diskriminierung zu (Art. 2). Das Wohl des Kindes muss mit Vorrang berücksichtigt werden (Art. 3), die Entwicklung des Kindes muss in größtmöglichem Umfang gewährleistet werden (Art. 6) und die Meinung des Kindes muss in Entscheidungen über die Umsetzung des Rechts auf Bildung mit Gewicht einbezogen werden (Art. 12). Auch zugewanderte Kinder mit Behinderungen genießen sämtliche Rechte. Das Besondere ist darüber hinaus, dass diese Rechte in allen Phasen des Migrations- und Fluchtprozesses gelten müssen, also nicht erst, wenn ein bestimmter Rechtsstatus erreicht ist. 

Wie so oft hat auch die Europäische Union keine schlechten Rahmenbedingungen als verbindlich für die Mitgliedsländer formuliert: Auch die reformierte EU-Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU), die bis zum 20. Juli 2015 umgesetzt werden sollte, gibt u. a. höhere Standards für besonders schutzbedürftige Asylsuchende vor als bislang. „Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Schwangere haben besondere Bedürfnisse im Hinblick auf Unterbringung, Gesundheitsversorgung“. (SVR-Kurzinformation 2015, S.5)

Die Kinderrechtskonvention hat ebenfalls einen eigenen Artikel, nämlich Artikel 22, zu Flüchtlingskindern.

„(1) Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach Maßgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen (….oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte oder über humanitäre Fragen, denen die genannten Staaten als Vertragsparteien angehören,….) festgelegt sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person  befindet oder nicht.“

Das Recht auf Bildung ist aber in vielfacher Weise gesetzlich und faktisch eingeschränkt.

Vielfach „erleben geflüchtete Kinder und ihre Eltern in vielen Fällen, dass es größte Mühe bereitet, eine Kita oder Schule zu finden – und zudem eine, die in erreichbarer Nähe des Wohnortes liegt. Der Zugang zu Kindertagesstätten ist häufig aufgrund langer Wartelisten erschwert und Kitas sind nicht bedarfsgerecht ausgestattet.“ (Initiative Bildungsrecht, S. 11) Insbesondere das Leben in Gemeinschaftsunterkünften ist mit eingeschränkten Kommunikations- und Teilhabechancen verbunden. Gäbe es nicht die vielen Initiativgruppen, dann wäre die Situation noch dramatischer.

Man kann den Stand der Forschung über die Probleme des Bildungswesens folgendermaßen zusammenfassen:

„Quantitativ basierte Gesamtüberblicke zu Flüchtlingen an allgemeinbildenden Schulen fehlen. Zwar lässt sich die Zahl der minderjährigen Asylsuchenden bundesweit beziffern, es existieren jedoch keine Zahlen darüber, wie viele davon an welchen Schulen in welchem Bundesland einen Platz haben. Eine gesetzliche Schulpflicht für minderjährige Asylbewerber, die an keine Voraussetzungen geknüpft ist, besteht derzeit nur in Berlin und im Saarland. Einige Daten deuten auf teilweise lange Wartezeiten für Beschulung hin; Übergangszeiten werden z. T. durch außerschulische Deutschkurse ‚aufgefangen‘. Vielfach entstehen Unterbrechungen und Lücken im Bildungsweg sowie Bildungsleerlaufzeiten…….Auch die Form der Beschulung (z. B. Vorbereitungsklassen/‚Migrationsklassen‘ vs. Regelbeschulung) fällt regional sehr unterschiedlich aus. Eine lange Verweildauer in spezifischen, in der Regel sehr heterogen zusammengesetzten Migrationsklassen kann Integration erschweren. Ein weiteres Problem ist die Residenzpflicht; z. B. muss die Ausländerbehörde der Teilnahme an Klassenfahrten bzw. Schulausflügen zustimmen, wobei jeder Einzelfall geprüft wird. Eine besonders benachteiligte Gruppe bilden junge Flüchtlinge, die spät (mit 16 oder 17 Jahren) nach Deutschland eingereist sind und bei denen i. d. R. kein Einstieg in allgemeinbildende Schulen mehr möglich ist“. (Robert Bosch Stiftung/SVR 2016, S. 25)

 

Für die Sicherung des Rechts auf Bildung brauchen wir nicht nur die Aktivitäten im Bildungssystem, sondern auch eine bessere Koordination mit anderen Einrichtungen beispielsweise der Wohnungsversorgung, des Gesundheitswesens, der Kommunalverwaltung und anderen Institutionen. Desgleichen bedarf es der Koordination mit dem vorschulischen Bereich, den Initiativen des bürgerschaftlichen Engagements und der Freien Wohlfahrtspflege, Betrieben und Gewerkschaften.

 Ein solcher Anspruch ist nur mit einem Master-Plan zu realisieren. Davon ist noch nichts zu sehen. Die Runden Tische scheinen hier im Land sehr unterschiedlich zu funktionieren. Die alten Prinzipien des Erlasses für die Förderung von Migrantenkinder gelten weiter, Geld wird bereitgestellt, sofern es abgerufen wird, die Erhöhung der Lehrerstunden ist geregelt. Man kann sagen, dass das bürokratische Minimum gerade so erfüllt wird, dass niemand rechtlich klagen kann. Aber in der Realität hängt noch viel zu viel von dem Engagement und Gestaltungswillen weniger ab, oft der Leitungspersonen in Schulen.

 

Es geht aber noch um mehr. Angesichts des aufblühenden Rassismus in Deutschland bekommt der Artikel 29 der Konvention, der die Bildungsziele behandelt, besondere Bedeutung. Die Vertragsstaaten haben sich verpflichtet, alle Kinder und Jugendlichen „auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen sowie zu Ureinwohnern vorzubereiten“. Und für Kinder gilt: Sie brauchen ein Aufwachsen in einer gewaltfreien Umgebung – d.h. auch frei von rassistischen Bedrohungen und Anschlägen. Vielfach ist die These gut begründet, dass traumatisierende Erfahrungen nach der Flucht ebenso häufig sind wie während der Flucht.

 Die Zuwanderung von Flüchtlingen und der Rassismus erfordern gerade nicht nur ein technokratisch zu vollbringendes Integrationsmanagement, sondern einen Lernprozess aller, da diese Gesellschaft in einem Veränderungsprozess steckt. Die Einwanderungsgesellschaft ist noch lange nicht bei einem angemessenen Selbstverständnis angekommen. Da wird immer noch der Eindruck erweckt, als ob nach einer „Integrationsphase“ das alte völkische Deutschland wieder hergestellt werden könnte. Viele Bürger haben das verstanden, andere nicht. Die Bundesregierung offensichtlich noch nicht.

 

Flucht

Damit der Überblick erhalten bleibt, möchte ich zunächst einige Daten zur Einwanderungssituation referieren:

475 000 Asylanträge wurden im gesamten Jahr 2015 gestellt. Genau 50% der Anträge betreffen Kinder und Jugendliche von 0 bis 18 Jahre. Im 1. Quartal 2016 wurden 181.000 Asylanträge (davon etwa 50 Prozent von syrischen Staatsangehörigen) gestellt. In diesem Zeitraum wurden etwa 150.000 Entscheidungen getroffen. Die vom Bundesamt dabei errechnete „Gesamtschutzquote“   betrug 63,1 Prozent. Die Zahl der noch nicht entschiedenen Asylanträge stieg aber auch im 1. Quartal 2016 weiter an. Ende März lag sie bei 409.113 Asylanträgen. Stark zurück gehen aktuell dagegen die Einreisezahlen von Flüchtlingen. Das Schließen der „Balkan-Route“ sowie der „Flüchtlings-Deal“ mit der Türkei und die gesetzlichen Restriktionen im deutschen Asylrecht zeigen Wirkung: Nur noch bundesweit 20.608 Zugänge von Asylsuchenden wurden im März 2016 im EASY-System registriert (Februar 2016: 61.428; Januar 2016: 91.671). Die meisten Flüchtlinge kommen nach wie vor aus Syrien, Irak und Afghanistan. (Initiativeausschuss für Rheinland-Pfalz, 12.4.2016)

Die Daten über die Asylsuchenden müssen eingeordnet werden in die Strukturen der ausländischen Wohnbevölkerung und zum Migrationsgeschehen. Im März 2015 lebten in Deutschland 8.314.689 Ausländer. Davon waren 800.000 unter 16 Jahren alt, etwa 9,5 %. Die ausländische Bevölkerung ist zwar jünger als die einheimische, aber die große Mehrheit ist im erwerbsfähigen Alter – und das ist auch so beabsichtigt. Wenn wir sie nicht mehr brauchen, laufen ihre Aufenthaltserlaubnisse ab. Die Hälfte der Ausländer, die Deutschland pro Jahr verlassen, tut dies, weil sie nicht länger bleiben dürfen. Seit Jahren steigt sowohl die Zahl der Einwanderer als auch die Zahl der jährlichen Auswanderer. In 2014 sind 1.149.045 Ausländer eingewandert und 472.325 haben das Land verlassen. Auch der positive Wanderungssaldo ist kontinuierlich gestiegen. Seit vielen Jahren gibt es eine gezielte und gesteuerte Einwanderungspolitik, die durch den Zuzug von Asylsuchenden nur kurzfristig erweitert wurde. Wir betreiben seit Jahren eine aktive Einwanderungspolitik für die, die umstandslos in das Beschäftigungssystem integriert werden können, und beuten die Länder aus, deren Ausbildungskosten wir selbst dabei sparen.

 

Auch deshalb gibt in Europa keinen Kampf gegen die Fluchtursachen, es gibt nur einen Kampf gegen Flüchtlinge. Es gibt auch keinen Kampf gegen Schleuser – das ist nur ein Etikett, das scheinbare Legitimation verschafft. In Wahrheit werden die Geschäftsbedingungen für sie verbessert. Die Dublin-Verträge haben dafür gesorgt, dass Flüchtlinge von Deutschland ferngehalten wurden. Die Grenzen sollen die anderen schließen, was vor allem Deutschland nutzt – in zweierlei Hinsicht: Die Flüchtlinge bleiben anderswo und die Regierung kann die anderen Staaten vom hohen Ross der moralischen Empörung herunter kritisieren. Wenn die anderen auf Flüchtlinge schießen und Tränengas einsetzen, kann man sich entrüsten. Wehe, wenn diese aber die Grenzen wieder öffnen würden. Dann würde die bayerische Regierung als Erste Lager an den Grenzen einrichten. Und die Türkei wird benutzt, um Zeit zu kaufen für ein Abbremsen der Fluchtbewegungen. Aber sie sind schon längst verlagert worden. An die Stelle einer Route sind viele Wege und Rinnsale getreten.

Der Kampf gegen die Flüchtlinge ist ein Kaufen von Zeit, weil keine der Fluchtursachen beseitigt wird. Die Waffen aus Deutschland wandern ungestört in den Nahen Osten, die Freihandelsabkommen mit Afrika und den Ländern des Nahen Ostens werden intensiviert. Das hochproduktive Europa und Nordamerika und China überfluten diese Länder mit Lebensmittel und Fertigprodukten. Landflucht und Verarmung werden angeheizt, kein Land kann so Füße unter die eigene Entwicklung bekommen. Und das Geld der reichen Eliten wird von den europäischen Banken mit Handkuss angenommen und verheimlicht.

Ein Beispiel ist auch das Embargo der Europäischen Union. An dem Krieg der USA und Saudi-Arabiens gegen Syrien beteiligen sich auch die EU und die Bundesrepublik. Sie haben seit 2011 ein totales Embargo verhängt. Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion, vor allem aber die Herstellung von Medikamenten sind schon lange vollständig zum Erliegen gekommen. Medikamente sind nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen und extrem teuer. Die armen Kinder sterben, weil sie nicht versorgt werden können. Die EU und die Bundesregierung könnten das Embargo heute beenden. Sie tun es nicht. Ein entsprechender Appell an die Regierung wurde noch nicht einmal beantwortet. Aber es wird von Bekämpfung der Fluchtursachen schwadroniert.

 

Doch auch innergesellschaftlich geht der Kampf gegen die Flüchtlinge weiter, er wird sogar intensiviert. Im März 2016 berichtet der deutsche Innenminister über das von ihm geplante Gesetz zur „Integration“. „Der Innenminister will Flüchtlingen einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland verwehren, wenn sie Deutschkurse verweigern und Arbeitsangebote ausschlagen“ – meldet die SZ am 29.3.2016. Zwar ist kein einziger Fall bekannt, dass Flüchtlinge Sprachkurse verweigert haben, aber Gesetze gegen Flüchtlinge bedürfen heute offensichtlich keiner Begründung mehr. Und nach Arbeit suchen sie händeringend. Sie dürfen vielfach nicht arbeiten.

Vor allem aber die Frage der Deutschkurse wird auf himmelschreiende Weise missbraucht. Denn am selben Tag wird gemeldet, dass allein in Rheinland-Pfalz Zehntausende Flüchtlinge auf Sprachkurse warten. Sie haben sich dafür gemeldet, bekommen aber keinen Platz – so eine Pressemitteilung des zuständigen Integrationsministeriums. (AZ 29.3.2016) Und die Sprachlehrer und Organisationen, die die Sprachkurse durchführen, werden auf unverschämte Weise schlecht bezahlt. Ohne die unendlich vielen ehrenamtlichen Lehrerinnen würde das System der Sprachkurse zusammenschrumpfen.

Das geplante Gesetz ist ein Integrationsverhinderungsgesetz. Denn wer weiß besser als die Flüchtlinge selbst, dass sie die deutsche Sprache brauchen. Ihnen zu unterstellen, sie würden sich diesen Angeboten verweigern, die es nicht gibt, ist nicht nur gehässig, sondern verhindert Integration. Denn wer will sich diesem Diktat, das überflüssig ist, unterwerfen, wenn ihm eine falsche Motivation unterstellt wird. Das Gesetz dient nur der Unterwerfung der Flüchtlinge. Sie sollen schlechter gestellt werden als alle Deutschen; denen aber soll, auch wenn sie zunehmend verarmen, signalisiert werden, dass auch sie über den Flüchtlingen stehen. Die Spaltung der Gesellschaft wird aktiv vorangetrieben.

Oder man verleumdet sie mit der Behauptung der Integrationsverweigerung. Zu einem Zeitpunkt, da in Deutschland genau 40 000 nach Artikel 16a des Grundgesetzes anerkannte Flüchtlinge leben, soll eine Wohnsitzauflage für diese Gruppe eingeführt werden. Für ein halbes Promille der Bevölkerung soll es dieses Instrument des „unverhältnismäßigen Eingriffs in das Recht auf Freizügigkeit und die freie Wahl des Wohnsitzes“ geben. Welche Perversität. „Solche Auflagen, nicht nur für Flüchtlinge im Asylverfahren, sondern auch für anerkannte Flüchtlinge vorzusehen, verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention“ kritisiert das Deutsche Institut für Menschenrechte (15.3.2016). Das Gesetz soll für 211 000 Menschen mit Flüchtlingsschutz, der zeitlich befristet ist, also für 0,2 Prozent der Bevölkerung gelten. Das ist nicht nur irrelevant im Verhältnis zur innergesellschaftlichen normalen Migration, sondern ausgesprochen integrationsfeindlich, denn ohne Arbeitsplätze, die man sich frei suchen kann, gelingt in drei Jahren überhaupt nichts. Vielleicht lassen sich solche Menschen dann leichter abschieben.

Dieses Gesetzesvorhaben ist Ausdruck einer völkischen Politik im Dienst einer nationalistischen Schließung der Gesellschaft. In Abgrenzung zu den Nationalisten geht es darum, mit einer neuen kulturellen und politischen Selbstinterpretation den Wandel der Gesellschaft zu gestalten. Wir sind mehr als eine Einwanderungsgesellschaft. Wir befinden uns in einer Transformation zu einem „neuen“ Deutschland. Die neuen deutschen Medienmacher mit Migrationshintergrund haben uns das schon vor Jahren erklärt.

 

Pädagogik

Mit der starken Zuwanderung von Asylsuchenden im vergangenen Jahr hat auch ein neuer Zyklus der gesellschaftlichen Bearbeitung eines Sozialen Problems begonnen. In diese Bearbeitung ist vor allem die Pädagogik, also das Bildungssystem und sie Soziale Arbeit, eingebunden. Wohnung und Arbeit sind die beiden anderen Säulen der sogenannten Integration. Am Anfang steht wie in den 1970er Jahren die alarmierende Entdeckung von Missständen bzw. Handlungsbedarfen. Eine Welle der Hilfsbereitschaft breitet sich aus und führt zu vielfältigen Unterstützungsangeboten für Kinder, überwiegend nicht in der Schule. So haben die vierhundert Initiativgruppen im Jahr 1971 vor allem Hausaufgabenhilfen und Sprachkurse außerhalb der Schulen organisiert. Die Ausländerpädagogik der damaligen Zeit wird heute umgeschrieben in eine Flüchtlingspädagogik. Eine komplementäre Hilfebeziehung strukturiert sie.

In der zweiten Stufe reagiert das System, also das Bildungssystem, mit den typischen Instrumenten, nämlich Erlassen und bürokratischen Regelungen. Die Schulen wollen und erhalten mehr Geld, die eingerichteten Förderkurse und schulübergreifenden Koordinationsprozesse werden sehr unterschiedlich realisiert, die Lehrer*innen rufen nach Fortbildung, die Hochschulen nach Spezialstudiengängen. Die Erziehungswissenschaft reagiert erwartungsgemäß und produziert Spezialprogramme. Das System ist grundlegend eine Sortieranstalt und segmentiert nach seinen Regeln in Vorbereitungsklassen und Schularten. Die Gymnasien halten sich besonders zurück.

In der dritten Phase gilt das Problem als bearbeitet, die Gesellschaft beruhigt sich, die für die Lösung verantwortlichen Institutionen sind aber weiterhin unzufrieden, weil ihre Mittel begrenzt sind und die gesellschaftliche Anerkennung weitgehend ausbleibt. Der politische Diskurs schreibt die bleibenden Defizite den Beteiligten zu, insbesondere denen, die das Problem mit ihrer Anwesenheit hervorgerufen haben. In den pädagogischen Institutionen bemühen sich viele um eine pädagogische Förderung, es gelingt auch allmählich eine „Normalisierung“ in dem Sinne, dass sich Benachteiligungen ausgleichen. Vor allem aber: die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund emanzipieren sich von dieser Zuschreibung und wollen normale Menschen werden. Davon hält sie vielfach die Persistenz der Zuschreibung ab.

Wir befinden uns wahrscheinlich im Übergang von Phase eins zu Phase zwei. Die ersten Stimmen werden laut, dass der Freiwilligensektor auf Dauer überlastet ist. Auch bei den hilfsbereiten Profis machen sich schon Erschöpfungsphänomene bemerkbar. Die politische Steuerung muss nachfassen und wird bürokratische Festlegungen erlassen. Danach zeigt sich, dass die Unterschiede zwischen den Bundesländern zu groß sind und die Kultusministerkonferenz wird Rahmenrichtlinien erlassen – soweit sie nicht einfach die alten Richtlinien erneuert. Beim groß propagierten Kampf gegen Briefkastenfirmen zur Steuervermeidung wurde das jetzt so gemacht: Minister Schäuble hat die Erklärung von 2009, nach der Finanzkrise, aus der Schublade geholt und erneut verkündet. Geschehen ist zwischenzeitlich nichts.

Auch wenn insgesamt zu erwarten ist, dass sich solche Ablaufmuster wiederholen, ermöglicht die Reflexion auf diese Erfahrungen einen Spielraum, den wir nutzen können. Ich möchte dazu nur vier Punkte ansprechen.

 

1.

Für die erste Beobachtung greife ich den Gedankengang der Einleitung wieder auf. Sie bezieht sich auf die Aufnahme von Flüchtlingen seit dem „Zuwanderungsjahr“ 2015. Insbesondere in der Wahrnehmung von unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen beherrscht die Annahme von Traumata die kollektive öffentliche Anamnese. Auch diejenigen, die keinen jungen Flüchtling kennen oder mit ihm arbeiten, können sich auf Grund der Medienbilder und des öffentlichen Meinungsbildes sicher sein, dass traumatische Belastungen die Lebenssituation der Flüchtlinge kennzeichnen. Die Bilder, die die Medien transportieren, fokussieren nur auf dramatische Situationen, deren Bewältigung dem Beobachter als schier unmöglich erscheint. Zumindest müssten die Fliehenden in irgendeiner Weise „beschädigt“ sein. Die Formulierungen „viele sind traumatisiert“ oder „oft ist mit Flucht ein Trauma verbunden“ setzen die mediale Anamnese in eine scheinbar plausible Diagnose um. Für diejenigen, die in die pädagogische Arbeit mit jungen Flüchtlingen einsteigen, bedeutet das öffentlich markierte Vorausurteil eine Belastung, wissen sie doch, dass pädagogische Konzepte nur sehr begrenzt sind und tatsächliche therapeutische Bedarfe nicht abdecken können.

 Betrachtet man die herrschende Wahrnehmung, dann kann man ihre Besonderheit vor allem auf die lebensweltliche Fundierung der Wahrnehmungsmuster zurückführen. Im eigenen Erfahrungshorizont erscheinen die Bilder der Flucht als schrecklich, sie aktivieren Bewältigungsängste und, im Falle eines empathischen Nachvollzugs, starke Gefühle des hilflosen Ausgesetztseins. Weil in der Struktur der eigenen Lebenswelt die Ressourcen für die Bewältigung großer Belastungen noch nicht erlebt wurden, wird als einziges Bewältigungsmuster das des Traumas projiziert. So heißt es einleitend in einem neueren Aufsatz mit dem Titel „Kinder auf der Flucht“: „Flüchtlingskinder sind eine besonders schutzbedürftige und entwicklungsgefährdete Gruppe. Sie kommen alleine oder mit ihren Familien in ein fremdes Land, dessen Sprache sie häufig nicht sprechen und dessen Kultur sie nicht kennen. Sie sind vor nicht mehr erträglichen Zuständen geflohen und haben ihr Zuhause verloren. Die Kinder und Jugendlichen haben vor und auf der Flucht häufig Schreckliches erlebt. Aufgrund von Erfahrungen mit Gewalt und Tod, Entbehrung und Strapazen sind sie häufig physisch und psychisch stark belastet bis traumatisiert.“ (Meysen/González Méndez de Vigo 2015, S. 21)

In diesem Bild sind Ambivalenzen beseitigt, eine gefühlsbetonte Sicht auf das Kind überdeckt eine rationale Analyse. Das einzelne Kind kann nur noch als Fall von Hilfsbedürftigkeit wahrgenommen werden. Gegen diese Einseitigkeit soll ein pädagogisches Prinzip gesetzt werden, dass jedes Kind in seiner Handlungsfähigkeit, seinen Potentialen und Grenzen betrachtet werden soll. Die Schlussfolgerung lautet: Pädagoginnen und Pädagogen sollen bei ihrem Handwerk bleiben. Sie sind keine Therapeuten. Aber sie sind für die Gewährleistung von Schutzraum und Sicherheit für das Kind wichtiger denn je.

 

2.

Traumata und die Posttraumatischen Belastungsstörungen sind aber keine Erfindung. Nach Vergewaltigung, anderen Gewaltverbrechen und Kriegstraumata erkranken bis zu einem Drittel der Betroffenen an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Jörg M. Fegert und andere beobachten anhand einer systematischen „Übersicht zu Langzeitverläufen von Kriegsflüchtlingen, dass alle Studien höhere Raten an psychischen Auffälligkeiten berichteten; je methodisch aufwendiger jedoch die Diagnostik in den Studien war, desto geringer fiel die Rate an psychischen Störungen aus“ (Fegert u.a. 2015, S. 383). Die erste aktuelle Untersuchung in einer Erstaufnahmeeinrichtung in München kommt zu dem Ergebnis, dass 22% der untersuchten syrischen Kinder und Jugendlichen unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung litten und 16% unter einer Anpassungsstörung. Viel ausgeprägter sind andere gesundheitliche Beeinträchtigungen, und für die Therapie dieser Probleme wirkt sich der über lange Zeit verhinderte Zugang zu ärztlichen Leistungen extrem schädlich aus.

Für die pädagogische Arbeit ergeben sich aus diesen Beobachtungen zwei Schlussfolgerungen. So wie im Falle von Kindesmissbrauch benötigen Pädagogen und Pädagoginnen eine geschulte Sensibilität für die Wahrnehmung der Umstände, mit denen die Kinder nicht mehr zurechtkommen. Gefühle von Angst, Schutzlosigkeit, Kontrollverlust oder Hilflosigkeit kann man erkennen, ebenso regressive Vermeidungssymptome oder Übererregtheit. Gegenwärtig werden Schulungen, dies genauer zu erkennen, angeboten und sollten genutzt werden. Die Angebote der Parität haben, so sagt man, besondere Qualität. Es geht dabei nicht darum, dass aus Pädagogen Therapeuten werden, sondern dass Pädagogen rechtzeitig an andere Fachleute weiterverweisen können und den Übergang begleiten.

Die zweite Schlussfolgerung zielt auf das pädagogische Handeln selbst. Denn dieses Handeln hat die Qualität, eine sichere Umwelt herzustellen, Verlässlichkeit zu gewährleisten, nicht-intervenierende Akzeptanz zu vermitteln oder wie es in einer Schweizer Untersuchung heißt: reaktive Co-Präsenz zu realisieren. Kinder sollen nicht überbehütet, sondern bis hin zu den Grenzen ihrer autonomen Handlungsfähigkeiten geachtet werden. Aber sie sollen sich des Schutzes sicher sein. Um eine solche Umwelt für das Kind zu ermöglichen, ist Pädagogik genug gefordert. In der Schule wird sie ja immer begrenzt durch die schulischen Leistungsnormen und die wildwüchsigen Interaktionen zwischen Schülern und Schülerinnen.

 

3.

Womit wir uns zu Beginn der Beschulung von Flüchtlingskindern auseinandersetzen müssen, das ist das Muster der stereotypen Fehleinschätzung von Migrantenkindern. Wie das Stereotyp vom schlechten Schüler, dem nichts zugetraut wird und der nur wider die Einschätzung seiner Lehrer und Lehrerinnen Erfolg haben kann, hat das Stereotyp vom Migrantenkind die zurückliegenden Jahrzehnte bestimmt. Nach einer neueren Studie über bildungserfolgreiche Migrantenkinder muss man festhalten, dass sie überwiegend gegen die Schule ihren Erfolg erarbeitet haben. So heißt es in einer neuen Studie: „Wenn wir feststellen müssen, dass über die Hälfte unserer später als Jurist_innen, Unternehmer_innen  oder Lehrkräfte tätigen Interviepartner_innen am Ende ihrer Grundschulzeit keine Gymnasialempfehlung erhalten hatten und dass dennoch wiederum die Hälfte  ihren Weg über das Gymnasium gingen, um mit dem Abitur die Berechtigung zum Studium zu erreichen, dann ist dies ein deutliches Zeichen dafür, dass das Bildungssystem in weiten Teilen nicht in der Lage war, vorhandene Talente zu entdecken und gezielt zu fördern.“ (Lang/Pott/Scheider 2016, S.201)

Eine heutige Rechtsanwältin schildert ihre Schulzeit folgendermaßen: Nach fünf Jahren in einer sogenannten Vorbereitungsklasse (das ist die Form, die heute wieder eingerichtet wird) und nach vielen Versuchen, in die deutsche Klasse zu kommen, wird sie in die Hauptschule übernommen.

„Und dann hab´ ich jedes Jahr meine Lehrer angefleht, 6., 7., 8., 9. Klasse, jedes Jahr bin ich zu meinem Klassenlehrer gegangen und hab ihm gesagt: ‚Herr Soundso, ich möchte auf die Realschule!‘“ ….Da „hieß es, ‚Du wirst es nicht packen! Das ist viel zu schwierig für Dich!‘ Dabei war ich eine der Klassenbesten.“ (Lang/Pott/Schneider 2016, S. 85)

Nach der 9. Klasse erhält sie ein Übergangszeugnis für die Realschule.

„Und das war mir dann einfach zu viel, das war die größte Enttäuschung meines Lebens. Und da hab´ ich zu meinen Eltern gesagt: ‚Leute, ich will einfach nicht mehr. Ich liebe dieses Land, aber ich will ´ne bessere Bildung!‘ Und: ‚Schickt mich in die Türkei!‘ Das ist so´n Irrwitz, dass ich dann als jemand, der in Deutschland geboren ist, für´n Jahr in die Türkei geh´!“ (ebenda)

Zu diesem Mechanismus gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen und Erfahrungen. Gerade die dauernde Rede vom Problem, Migrant zu sein, und von der großen Hilfsbedürftigkeit hat die „Bedrohung durch Stereotype“, wie der Fachterminus lautet („stereotype threat“) verstärkt. Das Bundesjugendkuratorium hat schon 2008 erklärt: „Am wichtigsten ist deshalb eine deutliche ‚Ent-kategorisierung‘, indem ‚Probleme‘ und ‚Missstände‘ nicht mehr mit Gruppenmerkmalen (‚AusländerIn zu sein‘) erklärt werden.“ (Bundesjugendkuratorium 2008, S. 11) Die Schlussfolgerung besteht natürlich nicht darin, das Stereotyp umzudrehen. Das wäre zu einfach. Anspruchsvoller, aber für eine Profession angemessen, ist die Forderung nach Individualisierung, nach einer konsequenten Zuwendung zu jedem Kind, um genau das zu sehen, was es kann und was es nicht kann. Das bedeutet auch, dass sein konkretes Können, beispielsweise beim Sprechen und Schreiben, von den an das einzelne Kind gerichteten Anforderungen und vor allem von den individuellen Fortschritten her zu beurteilen ist und dass das Kind individuelle Belobigung und Kritik erfährt.

 

  1. 4.

In der World Vision Studie, in der Kinder interviewt wurden, finden wir die unterschiedlichsten Erfahrungen der Kinder. Sie verweisen uns erneut auf die Verschiedenheit der Welterfahrung hier an ihrem Lebensort.

Jakob, ein Zehnjähriger aus dem Kosovo, berichtet von seinen schönen Träumen. „Doch statt sich wie andere Kinder seinen Träumen hinzugeben, wird Jakob von einer großen Angst beherrscht: dass er und seine Familie bald wieder in den Kosovo abgeschoben werden. Die Gedanken belasten ihn so sehr, dass er nachts kaum schlafen kann. ‚Nicht bisschen habe Stress, aber ganz viel‘, erklärt der Junge. Ein Bekannter hat ihm erzählt, dass die Polizei bevorzugt nachts komme, um die Familien abzuholen, und sie so, wie sie sind, wieder in das Herkunftsland zurückschicke.“ (S. 27)

Eine Elfjährige, die aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet ist, fühlt sich sicher. „Ihr Schulweg führt Shirin jedes Mal über den Bahnhof. Sie lacht, wenn sie von den dortigen Verlockungen erzählt: Drogeriemarkt, 1-Euro-Shop und Donut-Laden. Nur zu gern würde Shirin ihr Taschengeld für Klamotten, Kosmetika und Süßigkeiten ausgeben……. Einer ihrer Lieblingsorte in der neuen Heimat ist die öffentliche Bibliothek. Hier leiht sie sich Bücher und Filme aus…… Nur unweit der Bibliothek liegt noch ein wichtiger Ort für Shirin: das Stadtzentrum mit seinen Geschäften – beliebter Treffpunkt junger Mädchen. Die Elfjährige liebt es, mit den Freundinnen durch die Straßen zu schlendern und sich die Schaufenster anzuschauen.“ (S.30)

Beides ist möglich – die Faszination durch die Konsumwelt und die Angst vor der nächtlichen Abschiebung. Auch Deutschland produziert gewaltsame Vertreibung, nämlich derer, denen wir hier kein Lebensrecht einräumen. Kinder haben die Flucht vielfach nicht hinter sich, sondern sie stecken mittendrin. Auch die vielen Familien aus Syrien werden kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bekommen. Wenn der Krieg tatsächlich beendet werden kann, dann wird genau jene Verdrängung stattfinden, die in Bezug auf Afghanistan schon begonnen hat. Nach dem Jugoslawienkrieg waren ebenfalls viele Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland. Die meisten Familien sind in ihre Herkunftsländer zurückgegangen. Aber bis heute ziehen sich die Abschiebungen hin. Gelegentlich kommt dieser Skandal in die Öffentlichkeit, wenn sich ganze Schulen und Belegschaften gegen die Ausweisung von Familien zur Wehr setzen. Wie absurd sind diese Regelungen: Kinder leben hier unter Vorbehalt.

 

Am Ende steht deshalb ein einfacher Satz. „Kinder haben ein Recht auf den heutigen Tag.“ Janusz Korczak hat ihn gesagt und damit ein zentrales pädagogisches Prinzip formuliert. Im Jetzt zu lernen und herausgefordert zu werden, im Jetzt zu spielen und fröhlich zu sein, im Jetzt traurig zu sein und nachzudenken – dies haben Pädagogen und Pädagoginnen zu fördern, damit die Kinder in ihre Zukunft, von der wir und sie selbst nichts wissen, optimistisch und selbstbewusst gehen können.

 

 

 

 

 

 

Literatur

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015): Das Bundesamt in Zahlen 2014. Asyl, Migration und Integration. Nürnberg.

Fegert, Jörg M.; Plener, Paul L.; Kölch, Michael (2015): Traumatisierung von Flüchtlingskindern – Häufigkeiten, Folgen und Interventionen. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 4/2015, S. 380 – 389.

Meysen, Thomas; Gónzalez Méndez de Vigo, Nerea (2016): Kinder auf der Flucht. In: DJI-Impulse 3/2015, S. 21 – 23.

INITIATIVE Bildungsrecht für Kinder mit Fluchterfahrung: Jetzt! Autorengemeinschaft: Thomas Berthold u.a. Freudenberg Stiftung Weinheim: September 2015.

Kurzinformation des SVR-Forschungsbereichs 2015-2: Junge Flüchtlinge. Aufgaben und Potenziale für das Aufnahmeland.

Lang, Christine; Pott, Andreas; Schneider, Jens (2016): Unwahrscheinlich erfolgreich. Sozialer Aufstieg in der Einwanderungsgesellschaft. (IMIS-Beiträge, Heft 49/2016). Osnabrück.

Bundesjugendkuratorium (2008): Pluralität ist Normalität für Kinder und Jugendliche. Vernachlässigte Aspekte und problematische Verkürzungen im Integrationsdiskurs.

Robert Bosch Stiftung / Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration: Was wir über Flüchtlingen (nicht) wissen. Der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur die Lebenssituation von Flüchtlingen in Deutschland. Eine Expertise im Auftrag der Robert Bosch Stiftung und des SVR-Forschungsbereichs. Januar 2016

World Vision Deutschland, Hoffnungsträger Stiftung (Hrsg.): Angekommen in Deutschland. Friedrichsdorf 2016.

Studien:

UNICEF 2014: In erster Linie Kinder

Franziska Eisenhuth: Strukturelle Diskriminierung von Kindern mit unsicheren Aufenthaltsstatus. Subjekte der Gerechtigkeit zwischen Fremd- und Selbstpositionierungen. Wiesbaden: Springer 2015

 

 

 

 

 

 

 

„Die jungen Männer aus Marokko von Köln“ Über einen neuen Topos der Flüchtlingsabwehr. Vortrag am 30.4.2017, Haus des Deutschen Gewerkschaftsbundes Mainz

 

Der Gegenstand: Kommunikation

Nach Pegida und AfD haben die talkshows im Fernsehen seit Anfang Januar 2016 ein neues Fressen gefunden: die gefährlichen jungen Männer aus Marokko. Zwar ist über die tatsächlichen Vorgänge, weil die Polizei jetzt gründlich arbeitet, wenig bekannt. Aber genau dies, dass man Genaues nicht weiß, ist ideal für Diskurse, die sich ihrer empirischen Basis nicht vergewissern brauchen und wollen. Es geht um Vorstellungen und Phantasien in den Köpfen von Millionen, die nur medial etwas vom Thema erfahren.

In der öffentlichen Diskussion werden Meinungen gebildet und die Orientierungsmuster vermittelt, die angesichts der gesellschaftlichen Verunsicherung durch Polarisierung und Verlust des Systemvertrauens gebraucht werden. Monatelang waren die Talkshows im Jahr 2015 mit PEGIDA angefüllt; danach kam die AfD zu dieser Chance der Selbstdarstellung. Diese Shows folgen der Logik, dass die aggressivsten und auffälligsten Meinungen am meisten honoriert werden. So werden Gewalt und Kriminalität, unmoralisches und abweichendes Handeln honoriert. Gleichzeitig wird „Normalität“ als die jeweils dargestellte Konformität der „rechtschaffenen Bürger“ hergestellt. Politisch bieten die Medien eine Plattform für die seriös sich gerierenden extremistischen Haltungen, ohne dass sie sich selbst dem Vorwurf der Agitation aussetzen müssen. Journalisten können mit ihren Entscheidungen, Pluralität darzustellen, zugleich ihre eigenen Auffassungen kaschieren. Bei genauerer Untersuchung wird dies sichtbar.

Hinzu kommt ein zweites Element in den Darstellungen von Flucht, Kriminalität und anderen Formen der scheinbaren Bedrohung. Insbesondere in den Bildern von der Silvesternacht 2015 in Köln, die vielfach einen völlig nichtssagenden Inhalt hatten, wurde die Bedrohung „auf den Begriff gebracht“, vielleicht gerade deshalb, weil das Bild diffus war. Die Dramatisierung durch die Bilder hinterlässt mehr Schrecken als im Moment der Wahrnehmung bewusst wird. Es bildet sich ein stabiles kollektives Unbewusstes heraus, das jederzeit mobilisiert werden kann. Angst und Schrecken sind sein Inhalt, verbunden mit bestimmten Vorstellungen und Zuschreibungen.

In der ungehemmten Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Werbeeinnahmen wird die Berichterstattung der Medien hektischer und aufgeregter und produziert so eine Steigerung von Ängsten. Und selbst wenn immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass beispielsweise „die meisten Muslime in Deutschland friedfertig“ seien – die Bilder sprechen eine andere Sprache. Die mit den Bildern transportierten Vorstellungen von Personen und Gruppen bzw. von Situationen legen fest, auf wen sich die Ängste beziehen können. Vor allem wird der Eindruck gefestigt, und dies ist ein altes nationalistisches Motiv: alles Unheil kommt „von draußen“, aus dem Ausland. Das eine Muster wird verstärkt: Gefahren, Kriminelle und Terroristen kommen von außen in „unsere“ Gesellschaft hinein. „Wir“ sind der friedliche Hort der Menschenrechte und die Erben von Freiheit und Gleichberechtigung. Die „anderen“ sind die Bedrohung. Dabei ist gerade der Terror schon lange da, von „uns“ selbst erzeugt: sowohl in den banlieus der französischen und belgischen Städte als auch in den nationalistischen Milieus Deutschlands – nicht nur in Ostdeutschland. Dass wir mit mehr als tausend Straftaten im Jahr 2015 gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte den Terror im eigenen Land hervorbringen, der aber so nicht bezeichnet wird, dass der IS von vielen Tausend jungen Menschen aus Mitteleuropa genährt wird, dass die Terroristen von Paris und Brüssel in Europa aufgewachsen sind – all dies wird zur Seite geschoben.

Aber selbst dies spielt bei genauerer Betrachtung nur eine untergeordnete Rolle. Fakten, Tatsachen und Zusammenhänge der Außenwelt sind weniger bedeutsam als die inneren Zustände von Personen und ihre Wahrnehmungen im Kommunikationsprozess, die von den inneren Zuständen bestimmt sind. Wer mit seinem Leben unzufrieden ist, überträgt seine Enttäuschung auf Personen und Gruppen, die er moralisch abwerten kann. Panu Poutvaara und Max Steinhardt haben (wieder einmal, nach vielen gleich lautenden sozialpsychologischen Befunden) gezeigt, dass persönliche Gefühle der Frustration, der Bitterkeit und des Neides auf den Erfolg anderer den Hass gegen die Fremden antreiben. („Bitterness in Life and Attitudes Towards Immigration“, CESifo Working Paper No. 5611, November 2015) Und solche Gefühle erscheinen wichtiger als der sozialstrukturelle Status, Alter, Geschlecht und Bildungsgrad.

Von Marokko nach Deutschland

Wie trivial die Umstände der Produktion von Fluchtbewegungen sind, kann man am Beispiel der jungen Männer aus Marokko zeigen, die an Sylvester 2015 in Köln durch Diebstahl, Nötigungen und sexuelle Gewalt aufgefallen sein sollen. Aus Marokko hatte Deutschland ab 1963 Gastarbeiter/innen angeworben. Ein kleinerer Teil der Angeworbenen lebt in Deutschland und unterhält Beziehungen zur Verwandtschaft in Marokko. In das Land mit seinen 33 Millionen Einwohnern kommen gegenwärtig pro Jahr acht bis zehn Millionen Touristen, aus Deutschland geschätzte 500.000. Auch die Wirtschaftsbeziehungen sind „großartig“: „Das marokkanische Exportgeschäft im Automobilsektor boomt“, meldet die Deutsche Industrie- und Handelskammer in Marokko im Januar 2016. Die europäischen Global Players im Autobau freuen sich über die billigen Zulieferer. Das Investitionsschutzabkommen von 2004 sorgt dafür, dass den deutschen Akteuren in Marokko nichts passieren kann. Ebenso ein Steuerabkommen, das die Verlagerung von Gewinnen aus Marokko heraus ermöglicht. Das Handels- und Dienstleistungsfreiheitsabkommen mit der EU wird noch verhandelt. Dann ist Marokko frei für die nächste Stufe der wirtschaftlichen Eroberung. Die globalen Wanderungsbewegungen folgen in zentralen Linien den Wegen des Geldes. Das zeigt sich am Verhältnis der armen und reichen Länder.

Es ist nicht so, dass in der Entwicklungshilfe zu wenig gegeben wird. Es ist vielmehr so, dass zu viel genommen wird. Denn nach den Berechnungen des „Internationalen Netzwerkes Steuergerechtigkeit“ fließt aus den sogenannten Entwicklungsländern ein riesiger Strom Geld in die Steueroasen und die reichen Länder der Welt. „Die Entwicklungsländer verlieren durch illegale Finanzströme jährlich ein Vielfaches dessen an Kapital, was sie durch öffentliche Entwicklungshilfe erhalten. Allein durch Preismanipulationen von Konzernen verlieren die armen Länder jährlich 160 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen; das ist deutlich mehr als sie an Entwicklungshilfe erhalten.“ (Markus Meinzer: Der neue Kolonialismus, SZ 12.4.2013, S.2) Der Außenhandelsüberschuss für Deutschland betrug im Handel zwischen Deutschland und Marokko 2012 „nur“ 820 Millionen Euro; denn weder ist Deutschland für Marokko noch Marokko für Deutschland ein sehr wichtiger Handelspartner. Aber es geht hier ja um den Kontext, in dem offensichtlich junge Menschen aus Marokko nach Deutschland kommen und versuchen, in legalen und illegalen Weisen Geld zu verdienen, das sie (auch) an ihre Familien in Marokko schicken.

Von Deutschland nach Marokko

Die Modernisierung des Landes in vielen Schritten ist der europäisch induzierte Wandel, der auch „unsere“ Freiheiten, Möglichkeiten und Reichtümer mit sich bringt, dessen Früchte aber nur von den europäischen Ländern geerntet werden sollen. Natürlich lassen die Touristen auch Geld im Land – aber den Reibach machen die europäischen Organisatoren des Tourismus. Und die Touristen schwärmen davon, was sie für ihr Geld in Marokko kaufen können. Glauben die jungen Menschen in Marokko, sie könnten den Pfaden des Geldes folgen, dann sind sie illegal, unerwünscht und werden kein Asyl erhalten.

Das Beispiel ist ungeeignet, um die gegenwärtig besonders für Europa relevanten Fluchtursachen zu beschreiben. Denn obwohl Marokko im „Asylpaket 2“ zum sicheren Herkunftsland erklärt wird und der Anschein einer wichtigen, die Einwanderung erheblich vermeidenden Entscheidung erweckt wird, geht es um eine kurzfristige Vermeidungsstrategie zur Abwehr der Flüchtlinge. Noch deutlicher wird der Charakter dieser Politik, wenn man überlegt, was im Falle der Ausweisung der marokkanischen jungen Menschen geschehen wird. Sie haben keine Erlaubnis zur Ausreise beantragt, was im Königreich Marokko wie im guten alten europäischen Feudalismus auch noch üblich ist, und gelten deshalb in Marokko als straffällig. Im Falle der Einkerkerung kann man sich den weiteren Lebens- und Migrationsweg vorstellen. Was aber die Situation der jungen Menschen in Marokko, von denen die Hälfte arbeitslos ist, ändern könnte, wäre der legale Einwanderungspfad für Afrika, den ProAsyl seit vielen Jahren fordert und der für wenige eine reale Chance, für viele aber eine einigermaßen realistische Hoffnung darstellen würde.

Zwischen Deutschland und Marokko

Das Beispiel ist aber sehr geeignet, die langfristig wirkenden strukturellen Beziehungen zwischen dem Maghreb und Europa, zwischen den Staaten um das Mittelmeer herum. Während einer Reise Ende Februar 2016 in die Maghreb-Staaten hat Bundesinnenminister De Maizière die Möglichkeiten abgeklärt, Tunesien, Algerien und Marokko als „sichere Herkunftsstaaten“ zu definieren. Dadurch sollen vor allem Abschiebungen erleichtert werden; gleichzeitig geht es um die Beschleunigung von Asylverfahren. Auch im Falle fehlender Personalpapiere soll durch Abgleichung der Fingerabdrücke die Abschiebung durchgesetzt werden können. „Die Klärung soll über Fingerabdrücke erfolgen, Marokko verfüge dazu über eine ‚vorzügliche Datenbank‘, sagte de Maizière.“ (SZ, 1.3.2016, S.1) Spätestens bei dieser Bemerkung kann der aufmerksame Leser aufmerken. Was bedeutet es, wenn ein Staat, der für seine Geheimdienste und die polizeiliche Kontrolle der Bevölkerung bekannt ist, eine solche Datenbasis besitzt? Amnesty International schreibt in seinem Jahresbericht: „The authorities restricted rights to freedom of expression, association and assembly, arresting and prosecuting critics, harassing human rights groups and forcibly dispersing was required. (Amnesty International Report 2015/2016; 23.2.2016) Die mediale Begleitung der Reise des Innenministers verweist in diesem Zusammenhang auf Einwanderungsdaten des Innenministeriums, die in den Statistiken der Einwanderung nicht, oder nur minimal abgebildet sind. So kommt das Herkunftsland Marokko in der Asyl-Statistik des Jahres 2015 nur einmal vor: bei den Rücknahmeersuchen an andere europäische Ankunftsländer, mit 2,3% der Rücknahmeersuchen im Jahr 2014. Von diesen 824 Fällen wurden 147 vollzogen; im Jahr 2015 wurden 112 realisiert. Bei den an den Grenzen aufgegriffenen UMF wurden im Jahr 2014 66 Jugendliche aus Marokko registriert, im Jahr 2015 war Marokko bei den wichtigsten Herkunftsländern nicht vertreten. (Bundestagsdrucksache 18/7625 vom 22.2.2016).

In der Ausländerstatistik von 2014 werden 65 000 Personen aus Marokko als in Deutschland lebend aufgeführt; von der Aufenthaltsdauer her ist die größte Gruppe diejenige mit 30 und mehr Jahren Aufenthalt. Die Gesamtzahl der Menschen mit marokkanischer Herkunft wird auf 180.00 geschätzt. Andere Schätzungen nennen 140.000 Personen und weisen darauf hin, dass ca. 7.000 davon Studierende der 2. Generation sind. (de.quantara.de) Wieder andere Quellen sprechen von 130.000 Marokkanern in Deutschland (SWR international, 21.5.2013). Zwischen 2006 und 2012 sind jährlich ca. 3500 Personen zugezogen, während gleichzeitig jeweils 2.500 Personen fortgezogen sind. Dabei handelt es sich um die typische Fluktuation der eingewanderten „Gastarbeiterbevölkerung“. (10. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Oktober 2014).

Die Beziehungen zwischen Marokko und Deutschland sind nicht so umfangreich, dass sie in der gegenwärtigen Flüchtlingsdiskussion im Vordergrund stehen sollten. Marokko ist stärker mit Frankreich, Spanien, Belgien und den Niederlanden verbunden. Aber die deutsch-marokkanischen Beziehungsstrukturen sind typisch für die langfristige Dynamik von Migrationsprozessen. Und selbst wenn Marokko wie die anderen Staaten Nordafrikas zum Bollwerk gegen die Migration aus Afrika und Asien ausgebaut wird, wenn deren Herrscher dafür reich beschenkt werden und unabhängiger von ihrer Bevölkerung herrschen können, so entscheidet sich an diesen Strukturen, ob es nur einen Kampf gegen Flüchtlinge oder auch einen Kampf gegen Fluchtursachen gibt.

Noch einmal: Worum es geht

Bei dem Versuch, ethnozentrisch die „Reinheit“ der eigenen Gesellschaft herzustellen, spielen zwei Mechanismen eine wichtige Rolle. Ein Mechanismus zielt darauf ab, das Eigene zu verniedlichen und das Andere zu vergrößern – wenn es sich um ein Übel handelt. Während die negativen Eigenschaften derer, die von außen kommen, überzeichnet werden, werden die eigenen Probleme marginalisiert. Die „marokkanischen jungen Männer an Sylvester in Köln“ sind zu einem feststehenden Stereotyp der Verwerflichkeit geworden, während der Bericht des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung vom 22.2.2016 nur in Randspalten der Presse oder überhaupt nicht erwähnt wurde. Über die Ereignisse in Köln wird es wohl niemals eine vollständige Aufklärung geben und dieses Ereignis von wenigen Stunden Dauer hat wohl mehr mit Polizeiversagen zu tun als mit dem tatsächlich eingetretenen Geschehen. Die Realität bleibt in einem diffusen Zwielicht. Dem Bericht des Missbrauchsbeauftragten liegt dagegen eine umfangreiche wissenschaftliche Expertise zu Grunde, die von einer Gruppe angesehener Wissenschaftler erstellt wurde. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass mehr als eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. (Andreas Jud, Miriam Rassenhofer, Andreas Witt, Annika Münzer & Jörg M. Fegert: EXPERTISE Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch Internationale Einordnung, Bewertung der Kenntnislage in Deutschland, Beschreibung des Entwicklungsbedarfs, hrg. vom Unabhängigen Beauftragten für Sexuellen Kindermissbrauch) Dieser Umstand ist so beschämend für das Selbstverständnis der Menschen in Deutschland, dass er geradezu zu einer aggressiven Verdrängung verführt. Die Delikte der Anderen können dagegen zu einer bedrohlichen Angstphantasie gesteigert werden. Dabei spielt auch der einheimische Spätfeminismus sensu Schwarzer eine Rolle, der sich an die eigene Gesellschaft bis hin zur Selbstaufgabe angepasst hat und nun seinen Feind am fremden Mann findet.

Ein zweiter Mechanismus ist die Exkommunikation dessen, was als Eigenes nicht zu leugnen ist. Nach den Pogromen in den sächsischen Gemeinden Clausnitz und Bautzen sagte der Ministerpräsident Stanislaw Tillich: „Das sind keine Menschen, die so etwas tun. Das sind Verbrecher.“ Unabhängig davon, wie die Taten im Einzelnen zu bewerten sind, so werden Personen, wie Götz Eisenberg feststellt (Nachdenkseiten 22.2.2016), ins Monströse verteufelt und aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Genau dies ist aber die Überschreitung einer Grenze, die die aufgeklärte Zivilität gezogen hat. Demagogischer könnte der mitverantwortliche Politiker nicht von seinen eigenen Versäumnissen ablenken.

Wichtig aber ist, dass der rechtsextreme Terrorismus ebenso wie der millionenfache sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen aus der eigenen Gesellschaft hinauskatapultiert wird. So werden auch die 13.800 Straf- und Gewalttaten von Rechtsextremen im Jahr 2015 (www.tagesschau.de/inland/rechtsextremismus-gewalt-101.html) bestenfalls einmal am Rande erwähnt. Und die 1000 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in einem Jahr werden ernsthaft nur in einem kleineren Teil der Politik ernstgenommen. Manche politische Gruppen lassen sich auch gerne von diesem Terror vor sich hertreiben. Absolut beunruhigend aber ist der Umstand, dass bis zum 15. September 2015 mehr als 450 Haftbefehle gegen 372 rechtsmotivierte Straftäter nicht vollstreckt waren. Das bedeutet: Entweder werden diese Personen nicht verhaftet, obwohl die Polizei weiß, wo sie sich befinden. Oder die Verbrecher entziehen sich einer Verhaftung, weil sie untergetaucht sind (SZ, 11.1.2016). Und wenn der bayrische Ministerpräsident den Umstand, dass Flüchtlinge ungehindert über die Grenzen nach Deutschland kommen können (obwohl sie dort registriert werden), als „Herrschaft des Unrechts“ bezeichnet und dafür allerhöchstens „Irritation“ erntet, dann wird auf besonders perverse Weise die nationalistische Prämisse dieses Denkens deutlich. Denn dieser Ausdruck wurde bisher für Verhältnisse wie in der DDR oder in Nazi-Deutschland verwendet.

Diese Themen und Tatsachen werden durchaus nicht verschwiegen, aber sie spielen für die mediale Meinungsbildung keine Rolle. Der mainstream der Öffentlichkeit „schützt“ die Gesellschaft vor Zweifeln daran, ob sie ihre Verfassung ernst nimmt und überhaupt das Recht hat, von den Zuwanderern „Integration“ zu erwarten. Möglicherweise empfinden die jungen Männer aus Marokko eine größere Legitimation, in Europa, das ihr Land modernisiert, seine Arbeitskräfte verbraucht, seine Denkmäler sich angeeignet und seinen Reichtum nach Norden gebracht hat, sich das wieder anzueignen, was ihnen genommen wurde – zumindest in ihrer subjektiven Perspektive.

 

 

Schulsozialarbeit und Integrationsaufgaben.

Referat anlässlich der Eröffnungsveranstaltung „Soziale Arbeit und Lehramt – Konvergierende Professionen in der Schule?“ zum Magisterstudiengang Schulsozialarbeit der Katholischen Universität Eichstätt, 7.11.2016

 

Vorbemerkung

Was ist der Zweck der Schule? Die Kultivierung eines analytischen Verstands und die Pflege einer sich selbst reflektierenden Vernunft! Eine schöne Bestimmung, die im Alltag des Unterrichtens nicht immer sichtbar ist. Sie wird in der Funktion der Schule verdunkelt, durch belastende Emotionen blockiert, durch Macht und Aggressionen in den Beziehungen verhindert. Mit diesen Phänomenen hat die Schulsozialarbeit in vielerlei Form vor allem zu tun. Das ist nicht ihr Zweck, sondern ihre Tätigkeit ist ein Mittel um den Schulzweck zu realisieren. Aber sie bestimmt selbst, wie sie den Schulzweck definiert. In dieser Orientierung unterscheidet sie sich nicht vom Unterricht.

 

Die Formulierung des Themas hat mir genügend Spielraum gelassen, um Schwerpunkte zu setzen. Das ist auch notwendig, denn Schulsozialarbeit ist ein intensiv beackertes Gebiet und Integration ist ein weites Feld. Bezogen auf die verschiedenen Schulformen hat sich Schulsozialarbeit ausdifferenziert und zwischen Grundschule und Berufsbildenden Schulen unterschiedliche Formen entwickelt und heterogene Schwerpunkte gesetzt. An den Hochschulen und Universitäten hat die Schulsozialarbeit dann den Titel „psychotherapeutische Beratungsstelle“ oder „Fachschaft“ angenommen.

Ich möchte mich in meinem Beitrag auf die Berufsbildenden Schulen konzentrieren, denn sie sind in der Fachdebatte, soweit ich das übersehe, vernachlässigt. Wie so oft werden die Allgemeinbildenden Schulen in den Fokus genommen, die Berufliche Bildung steht immer noch im Schatten des Glanzes der bildungsbürgerlichen Allgemeinbildung. Doch nicht dieses sozialpädagogisch zu nennende Motiv treibt mich an, also die Zuwendung zu den Benachteiligten, sondern meine Behauptung, dass die Berufsbildenden Schulen eine komplexe Einheit bilden, die unter dem Gesichtspunkt der Integration die größte gesellschaftliche Relevanz hat.

Die Grundschule ist epochal reformiert und wird von allerlein Unsinn, wie zum Beispiel dem Schreiben nach Gehör, heimgesucht. Die Sekundarstufe 1 ist tausendfach modifiziert, wird nach jeder Landtagswahl mit neuen Schultypen angereichert und existiert in unüberschaubarer Vielfalt. Das Gymnasium ist GottseiDank nicht mehr das, was es einmal war, aber seine Selektionsfunktion ist ungebrochen. Insbesondere in der Sekundarstufe 1 ist Schulsozialarbeit in diese Selektionsfunktion eingebunden, durchaus mit Chancen sie abzumildern.

Aber die Berufsbildenden Schulen haben heute einen weiten Geltungsbereich vom Berufsvorbereitungsjahr bis hin zum Beruflichen Gymnasium. Sie vermitteln alle Abschlüsse und alle Abstiegs- sowie Aufstiegsmöglichkeiten. Sie wirken integrativ, weil sie auch schulisch gescheiterten Jugendlichen einen Wiedereinstieg in Bildungsprozesse ermöglichen und weil sie Jugendliche ohne jegliche formale Qualifikation aufzunehmen in der Lage sind. In dem Bundesland, aus dem ich komme, sind die Wege durch die Berufsbildende Schule vielfältiger als im gesamten Allgemeinbildenden Schulwesen. Die klassisch zu nennende Berufsschule im dualen Ausbildungssystem spielt noch eine Hauptrolle, aber Berufsvorbereitungsjahr, Berufsfachschule I und II, Berufsoberschule und Duale Berufsoberschule, die Berufsoberschule II, die Höhere Berufsfachschule und das Berufliche Gymnasium offerieren qualifizierte Abschlüsse, freilich auch Abstiege.

Gerade im ländlichen Raum sind die Berufsbildenden Schulen ein Zentrum der regionalen Bildungsermöglichung. Die Berufsbildende Schule Simmern im Hunsrück, die ich kürzlich besuchte (nebenbei ein Hinweis für die Freunde der empirischen Forschung: n also gleich 1), diese Schule bietet fachschulische Bildungsgänge für Altenpflege, Altenpflegehilfe, und Sozialwesen an, sie vermittelt berufliche Grundbildung ebenso wie den qualifizierten Sekundarabschluss 2, die Fachhochschulreife ganztägig oder berufsbegleitend in verschiedenen Fachrichtungen oder die allgemeine Hochschulreife. Im Berufsvorbereitungsjahr Sprache werden die jungen Flüchtlinge der ganzen Region mit und ohne Schulerfahrung zusammengefasst und in das moderne Bildungssystem einsozialisiert – mit allen Vorzügen und Malaisen dieses Systems.

Durch wen wird dieses komplexe Gebilde zusammengehalten? Wer hat mit all den hundert Lehrern und Tausend Schülern zu tun? Natürlich die Hausmeister und das Schulsekretariat. Aber insbesondere durch die beiden Personen, die darüber hinaus ein eigenes Arbeits- und Besprechungszimmer haben: Der Schulleiter und die Schulsozialarbeiterin. Die Macht und die Kompetenzen sind selbstverständlich höchst ungleich verteilt. Da ist die Schule ein genaues Abbild der Gesellschaft. Für beide Funktionsstellen ist die Integration eine vorrangige Aufgabe. Der Schulleiter sichert den Erfolg, das formale Funktionieren und das Ergebnis, das die Schule an die Gesellschaft abliefert. Der Imperativ seiner Tätigkeit ist systemisch definiert. Die Schulsozialarbeiterin dagegen hat sich ihr Ansehen bei Lehrern und Schülern erarbeitet, ihre Tätigkeit wird von einer persönlichen Ausformung kommunikativer und psychosozialer Kompetenzen bestimmt. An den Rändern der Systemintegration des reibungslosen Ablaufes, für das der Schulleiter verantwortlich ist, sichert sie durch persönliche Anstrengung das Herausfallen von Schülern und Schülerinnen in deren Interesse an einem erfolgreichen Schulbesuch. Dass sie auch noch vielfach den Frust vieler Lehrkräfte auffängt, ist in einer Schule dieser Größenordnung schon gar nicht mehr zu erwarten, aber sie tut es.

Die beiden Arbeits- und Besprechungszimmer symbolisieren Orte der Integration. Wenn dabei von Integration gesprochen wird, dann nicht in dem migrationspolitisch eingeschränkten Sinn, sondern in einem soziologisch korrekten, nämlich universalistischen Sinn. Integration gehört wie Differenzierung, Segregation, Schichtung, Inklusion und Exklusion zu den soziologischen Grundbegriffen. Die Differenzierung des Begriffs beginnt mit der Unterscheidung von Sozial- und Systemintegration und wird häufig mit Formen der Solidarität in Verbindung gebracht. Üblich ist aber inzwischen die Einengung des Begriffs auf die Integration von Zuwanderern. Aber dies ist eine problematische Verkürzung. Denn die Struktur- und Integrationsprobleme der Gesellschaft, die auch ohne Migranten bestehen, geraten dabei aus dem Blick.

Ich möchte dafür ein Beispiel geben. In Hunderten von Dokumenten wird die unzureichende Bildungsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund mit den unterschiedlichen Bildungsabschlüssen aufgezeigt, manchmal auch bedauert oder kritisiert. So lange die Schulstatistik in der Vergangenheit auf eindeutige Kriterien zurückgegriffen hat, wurde der Bildungserfolg von Inländern und Ausländern verglichen. Über die Jahre haben 15% der ausländischen Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen, bei den inländischen Schülern lag die Quote bei 5 bis 6 %. Auf diese Differenz bezogen sich die Debatten mit unterschiedlichen Erklärungen, die aber mit Sicherheit vor allem eine Wirkung hatten: das Problem des fehlenden Abschlusses bei den Ausländern zu platzieren. Sieht man sich die absoluten Zahlen an, ergibt sich folgendes Bild: Bei den Ausländern sind es 15.000 Jugendliche ohne Abschluss, bei den Deutschen sind es 52.000. Der Umfang des Problems, nämlich einer ergebnislosen Schulkarriere, ist umgekehrt proportional. Zwar wird im Übergangssystem der Berufsbildenden Schule manche Karriere, vor allem mit Hilfe der Schulsozialarbeit, in eine erfolgreiche Perspektive umgebogen. Aber die deutsche Gesellschaft hat erfolgreich ihre Problemdefinition auf die Ausländer gelenkt. Die Integrationsdiskussion verlagert sich auf die Zu- und Einwanderer. Die wissen gar nicht, wofür alles sie gut sind.

Die projektive Verdrängung von Strukturproblemen wird noch deutlicher, wenn man die Tatsache der Armut in dieser Gesellschaft hinzunimmt. Dann zeigt sich nämlich, wie das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt in einer Panelstudie herausgearbeitet hat, dass in der migrantischen Bevölkerung die Bildungswege aus der Armut heraus zahlreicher und erfolgreicher sind als in der einheimischen Bevölkerung. In diesem Bevölkerungsteil sind nämlich erschöpfte Familien, sozialer Abstieg, berufliche Auszehrung und resignativer Anstrengungsverlust häufiger als in den Familien, die durch Migration ihr Schicksal verbessern wollen. In den nach der Migration folgenden Generationen wird deshalb der Bildungserfolg zahlreicher, aber auch die soziokulturelle Marginalisierung, die durch soziale, mediale und politische Diskriminierung hervorgebracht wird.

Diese Beobachtungen führen zurück zum systematischen Sinn des Integrationsbegriffs und zur Bedeutung der Schulsozialarbeit. Die Schule ist eine parapädagogische Institution der Leistungsauslese und der Einübung in die Regeln der Gesellschaft. Gesellschaftliche Anforderungen an jedes Individuum mildert sie als Schonraum ab, daraus resultieren pädagogische Imperative. Als Teil des Systems der Moderne rationalisiert sie aber Beziehungen unter dem Gesichtspunkt der strategischen Effektivität. Sie setzt dabei die normativen, auf liebevoller Zuwendung und solidarischen Handlungen beruhenden sozialen Motive voraus und verbraucht sie gleichzeitig mehr, als sie sie hervorbringen kann. Diese auflösende und verbrauchende Verbindung von System- und Sozialintegration braucht gerade in neoliberal umgebauten Gesellschaften und ihren Institutionen die Zufuhr von kommunikativem Handeln, von persönlicher Zuwendung und subjektorientierter Reflexion. Genau dies kann die Schulsozialarbeit. In ihr kommt Sozialpädagogik auf ihren Begriff.

Integration ist die Leistung der Schulsozialarbeit, weil sie der Schule einen Reflexionsgewinn verschafft und kommunikative Kapazitäten aufbaut. Deshalb gibt es immer mehr Schulsozialarbeit. Dabei geht es nicht nur, vielleicht sogar am wenigsten, um die Einstellung von Sozialpädagogen und Sozialarbeiterinnen. Es geht darum, Spielraum für Nachdenken und Aufarbeiten von unbearbeiteten Konflikten zu schaffen und die Individuen, wenn man es theatralisch formuliert, mit den Anforderungen der Schule zu versöhnen. Diese Aufgabe stellt sich in allen Schularten, besonders aber in der Berufsbildenden Schule, die die Widersprüche der Gesellschaft am stärksten in einer Schulform zusammenführt. Denn die technischen Anforderungen vieler Lerngegenstände lassen sich am besten in strategische Handlungsanforderungen transformieren, präferieren einen Lehrmodus der bedingungslosen sachlichen Alternativlosigkeit. Diese Art von Pädagogik hat fast den Stand der digitalen Möglichkeiten von Null und Eins erreicht, realisiert also die Signatur des Zeitalters und bereitet hervorragend auf die europäische Demokratiekultur vor. Die Kultur der Berufsbildenden Schulen ist besonders spannungsvoll, weil die Ordnungen der Betriebe ebenso in sie hineinwirken wie die Ordnungen der gelehrten Fächer und dann, zuletzt, die Ordnung der didaktischen Formierung. Das pädagogische Handeln mit seiner Parteilichkeit für den Schüler steht quer zu diesen durchstrukturierten Ordnungen und hat es deshalb besonders schwer. Eine einzigartige Chance für Schulsozialarbeit – aber wie stark müsste sie sein?!

Wie dem auch sei – die Schulsozialarbeit hat nicht nur in den Berufsbildenden Schulen einen Schwerpunkt gefunden in der Unterstützung der Lehrkräfte und der Schüler und Schülerinnen im Berufsvorbereitungsjahr Sprache, in das heute sehr viele Jugendliche mit Fluchterfahrung eingeschult werden. Zweifellos ist der Erwerb der deutschen Sprache eine elementare Notwendigkeit für diese Jugendlichen. Das wissen sie selbst am besten. Wenn man ihnen dies immer wieder erklärt, sind sie zunächst erstaunt darüber, dass man ihren subjektiven Willen nicht zur Kenntnis nimmt. Gehen die Ermahnungen, sie müssten doch um ihrer selbst willen vor allem Deutsch lernen, weiter, dann reagieren sie bisweilen mit der bloßen Verweigerung, hervorgerufen nicht auf der Ebene der sachlichen Anforderungen, sondern des Widerstands auf der Beziehungsebene. Weil sie die ständigen Ermahnungen als respektlos empfinden.

Die Forderung, die Sprache erwerben zu müssen, ist ohnehin nicht eine pädagogische. Pädagogisch reflektiert steht das freundliche Wort am Anfang. Es muss nicht die Willkommenskultur der Teddybären sein, im Gegenteil. Es muss das freundliche Wort sein, das sich durchhält, gerade in den Schwierigkeiten der Ebenen und das die Klarheit eines Interesses an der Entwicklung des Jugendlichen um seiner selbst willen zum Ausdruck bringt. Empirisch kann man dies im Alltag jeder Schule beobachten, in manchen Schulen ist es stärker realisiert als in anderen. Je mehr es fehlt, braucht man die Schulsozialarbeit – freilich auch nur eine, die das, was sie von anderen erwartet, auch selbst realisieren kann, nämlich kommunikative Zuwendung und Bereitstellung von Reflexionsräumen.

Aber mit den Berufsvorbereitungsklassen Sprache sind wir thematisch bei der üblicherweise gemeinten Bedeutung von Integration. Sie bezieht sich auf die Integration von zugewanderten Personen. Dass es sich um Personen handelt ist die erste wichtige Erinnerung in diesem Zusammenhang, denn normalerweise ist nur von Gruppen, Kollektiven und Massen im Plural die Rede. Allein diese Modifikation schafft Raum für pädagogisches Nachdenken. An die Stelle des Kollektivbildes tritt der individualisierende Blick auf das Kind und den Jugendlichen. Mit diesem Beginn einer pädagogischen Reflexion möchte ich Platz schaffen für einen produktiven Umgang mit Migrationsfolgen. Denn gerade in der hysterisch aufgeheizten Stimmung nach dem Sylvester 2015 sind vor allem Kollektivbilder verstärkt worden, die die konventionellen Stereotypen ins Gigantische gesteigert haben. Das Bild von der Überflutung, von brechenden Dämmen gegen die Invasion oder die Verbindung von Gewalt, Terror und jungen Flüchtlingen ist so stark geworden, dass alles, was politisch über lange Zeit undenkbar war, mühelos durchgesetzt werden kann. Im Notfall, wenn er nur erklärt ist, ist der kurze Prozess legitimiert. Das Verlangen des österreichischen Außenministers nach dem Schießbefehl gegen Flüchtlinge ist nur die ultima ratio einer Grenzsicherung, die streng nach nützlichen und unnützen Zuwanderern unterscheidet. Die Etablierung von Gefängnissen für Flüchtlinge in Griechenland, die Abwehr von Flüchtlingen durch brutale Internierung in Libyen mit europäischer Hilfe oder die ungeprüfte Ausweisung von Flüchtlingen in den türkischen Staat des Imperators – alle diese Maßnahmen dienen dem Kampf gegen Flüchtlinge. Die Funktionalisierung der Entwicklungspolitik zum Mittel der Migrationsverhinderung stärkt die Diktaturen Afrikas, beliefert die Herrscher mit Waffen und stattet sie mit Geld aus, das diese im Zweifelsfall wieder in die Schweiz schaffen. Alle diese und weitere Maßnahmen opfern die europäischen Werte, von denen so viel die Rede ist, auf dem Altar einer perversen Lebensweise. Denn die unbeschwerten Kreuzfahrten im Mittelmeer sind wichtiger als die Leichen der Flüchtlinge, auf die man dabei mühelos hinunterschauen kann. Der Profit mit den Waffenlieferungen an Saudi-Arabien ist der Zentralwert dieser Gesellschaft, der es gleichgültig ist, dass seit Jahren ein brutaler Krieg von Saudi-Arabien gegen die Bevölkerung des Jemen geführt wird.

 

Aber ich möchte mich trotz oder vielleicht wegen dieses gesellschaftlichen und politischen Rahmens für pädagogische Überlegungen zur Schulsozialarbeit auf die Aspekte konzentrieren, die mir für die Formatierung eines pädagogischen Handelns wichtig erscheinen.

Für die erste Beobachtung greife ich den Gedankengang zur Macht der Kollektivbilder wieder auf. Sie bezieht sich auf die Aufnahme von Flüchtlingen seit dem „Zuwanderungsjahr“ 2015. Insbesondere in der Wahrnehmung von Kindern und unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen beherrscht die Annahme von Traumata die kollektive öffentliche Anamnese. Auch diejenigen, die keinen jungen Flüchtling kennen oder mit ihm arbeiten, können sich auf Grund der Medienbilder und des öffentlichen Meinungsbildes sicher sein, dass traumatische Belastungen die Lebenssituation der Flüchtlinge kennzeichnen. Die Bilder, die die Medien transportieren, fokussieren nur auf dramatische Situationen, deren Bewältigung dem Beobachter als schier unmöglich erscheint. Zumindest müssten die Fliehenden in irgendeiner Weise „beschädigt“ sein. Die Formulierungen „viele sind traumatisiert“ oder „oft ist mit Flucht ein Trauma verbunden“ setzen die mediale Anamnese in eine scheinbar plausible Diagnose um. Für diejenigen, die in die pädagogische Arbeit mit jungen Flüchtlingen einsteigen, bedeutet das öffentlich markierte Vorausurteil eine Belastung, wissen sie doch, dass pädagogische Konzepte nur sehr begrenzt sind und tatsächliche therapeutische Bedarfe nicht abdecken können.

 Betrachtet man die herrschende Wahrnehmung, dann kann man ihre Besonderheit vor allem auf die lebensweltliche Fundierung der Wahrnehmungsmuster zurückführen. Im eigenen Erfahrungshorizont erscheinen die Bilder der Flucht als schrecklich, sie aktivieren Bewältigungsängste und, im Falle eines empathischen Nachvollzugs, starke Gefühle des hilflosen Ausgesetztseins. Weil in der Struktur der eigenen Lebenswelt die Ressourcen für die Bewältigung großer Belastungen noch nicht erlebt wurden, wird als einziges Bewältigungsmuster das des Traumas projiziert. In diesem Bild sind Ambivalenzen beseitigt, eine gefühlsbetonte Sicht auf das Kind überdeckt eine rationale Analyse. Das einzelne Kind kann nur noch als Fall von Hilfsbedürftigkeit wahrgenommen werden. Gegen diese Einseitigkeit soll ein pädagogisches Prinzip gesetzt werden, dass jedes Kind in seiner Handlungsfähigkeit, seinen Potentialen und Grenzen betrachtet werden soll. Die Schlussfolgerung lautet: Pädagoginnen und Pädagogen sollen bei ihrem Handwerk bleiben. Sie sind keine Therapeuten. Aber sie sind für die Gewährleistung von Schutzraum und Sicherheit für das Kind wichtiger denn je. Dies steht schon im Gegensatz zur erklärten Politik der Erzeugung von Unsicherheit für die Flüchtlinge, die neuerdings durch die Bank nur die einjährige Sicherheit des subsidiären Flüchtlingsstatus erhalten.

 

Traumata und die Posttraumatischen Belastungsstörungen sind aber keine Erfindung. Nach Vergewaltigung, anderen Gewaltverbrechen und Kriegstraumata erkranken bis zu einem Drittel der Betroffenen an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Jörg M. Fegert und andere beobachten anhand einer systematischen „Übersicht zu Langzeitverläufen von Kriegsflüchtlingen, dass alle Studien höhere Raten an psychischen Auffälligkeiten berichteten; je methodisch aufwendiger jedoch die Diagnostik in den Studien war, desto geringer fiel die Rate an psychischen Störungen aus“ (Fegert u.a. 2015, S. 383). Die erste aktuelle Untersuchung in einer Erstaufnahmeeinrichtung in München kommt zu dem Ergebnis, dass 22% der untersuchten syrischen Kinder und Jugendlichen unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung litten und 16% unter einer Anpassungsstörung. Viel ausgeprägter sind andere gesundheitliche Beeinträchtigungen, und für die Therapie dieser Probleme wirkt sich der über lange Zeit verhinderte Zugang zu ärztlichen Leistungen extrem schädlich aus.

Für die pädagogische Arbeit ergeben sich aus diesen Beobachtungen zwei Schlussfolgerungen. So wie im Falle von Kindesmissbrauch benötigen Pädagogen und Pädagoginnen eine geschulte Sensibilität für die Wahrnehmung der Umstände, mit denen die Kinder nicht mehr zurechtkommen. Gefühle von Angst, Schutzlosigkeit, Kontrollverlust oder Hilflosigkeit kann man erkennen, ebenso regressive Vermeidungssymptome oder Übererregtheit. Pädagogen können dann rechtzeitig an andere Fachleute weiterverweisen und, was noch wichtiger ist, den Übergang begleiten.

Die zweite Schlussfolgerung zielt auf das pädagogische Handeln selbst. Denn dieses Handeln hat die Qualität, eine sichere Umwelt herzustellen, Verlässlichkeit zu gewährleisten, nicht-intervenierende Akzeptanz zu vermitteln oder wie es in einer Schweizer Untersuchung heißt: reaktive Co-Präsenz zu realisieren. Kinder sollen nicht überbehütet, sondern bis hin zu den Grenzen ihrer autonomen Handlungsfähigkeiten geachtet werden. Aber sie sollen sich des Schutzes sicher sein. Um eine solche Umwelt für das Kind zu ermöglichen, ist Pädagogik genug gefordert.

Womit wir uns zu Beginn der Beschulung von Flüchtlingskindern auseinandersetzen müssen, das ist das Muster der stereotypen Fehleinschätzung von Migrantenkindern. Wie das Stereotyp vom schlechten Schüler, dem nichts zugetraut wird und der nur entgegen der Einschätzung seiner Lehrer und Lehrerinnen Erfolg haben kann, hat das Stereotyp vom Migrantenkind die zurückliegenden Jahrzehnte bestimmt. Nach einer neueren Studie über bildungserfolgreiche Migrantenkinder muss man festhalten, dass sie überwiegend gegen die Schule ihren Erfolg erarbeitet haben. So heißt es in einer neuen Studie: „Wenn wir feststellen müssen, dass über die Hälfte unserer später als Jurist_innen, Unternehmer_innen  oder Lehrkräfte tätigen Interviepartner_innen am Ende ihrer Grundschulzeit keine Gymnasialempfehlung erhalten hatten und dass dennoch wiederum die Hälfte  ihren Weg über das Gymnasium gingen, um mit dem Abitur die Berechtigung zum Studium zu erreichen, dann ist dies ein deutliches Zeichen dafür, dass das Bildungssystem in weiten Teilen nicht in der Lage war, vorhandene Talente zu entdecken und gezielt zu fördern.“ (Lang/Pott/Scheider 2016, S.201)

Eine heutige Rechtsanwältin schildert ihre Schulzeit folgendermaßen: Nach fünf Jahren in einer sogenannten Vorbereitungsklasse (das ist die Form, die heute wieder eingerichtet wird) und nach vielen Versuchen, in die deutsche Klasse zu kommen, wird sie in die Hauptschule übernommen.

„Und dann hab´ ich jedes Jahr meine Lehrer angefleht, 6., 7., 8., 9. Klasse, jedes Jahr bin ich zu meinem Klassenlehrer gegangen und hab ihm gesagt: ‚Herr Soundso, ich möchte auf die Realschule!‘“ ….Da „hieß es, ‚Du wirst es nicht packen! Das ist viel zu schwierig für Dich!‘ Dabei war ich eine der Klassenbesten.“ (Lang/Pott/Schneider 2016, S. 85)

Nach der 9. Klasse erhält sie ein Übergangszeugnis für die Realschule.

„Und das war mir dann einfach zu viel, das war die größte Enttäuschung meines Lebens. Und da hab´ ich zu meinen Eltern gesagt:  ‚Leute, ich will einfach nicht mehr. Ich liebe dieses Land, aber ich will ´ne bessere Bildung!‘ Und: ‚Schickt mich in die Türkei!‘ Das ist so´n Irrwitz, dass ich dann als jemand, der in Deutschland geboren ist, für´n Jahr in die Türkei geh´!“ (ebenda)

Zu diesem Mechanismus gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen und Erfahrungen. Gerade die dauernde Rede vom Problem, Migrant zu sein, und von der großen Hilfsbedürftigkeit hat die „Bedrohung durch Stereotype“ („stereotype threat“) verstärkt. Das Bundesjugendkuratorium hat schon 2008 erklärt: „Am wichtigsten ist deshalb eine deutliche ‚Ent-kategorisierung‘, indem ‚Probleme‘ und ‚Missstände‘ nicht mehr mit Gruppenmerkmalen (‚AusländerIn zu sein‘) erklärt werden.“ (Bundesjugendkuratorium 2008, S. 11) Die Schlussfolgerung besteht natürlich nicht darin, das Stereotyp umzudrehen. Das wäre zu einfach. Anspruchsvoller, aber für eine Profession angemessen, ist die Forderung nach einer konsequenten Zuwendung zu jedem Kind und Jugendlichen, um genau das zu sehen, was es kann und was es nicht kann. Das bedeutet auch, dass sein konkretes Können, beispielsweise beim Sprechen und Schreiben, von den an das einzelne Kind gerichteten Anforderungen und vor allem von den individuellen Fortschritten her zu beurteilen ist und dass das Kind individuelle Belobigung und Kritik erfährt. Schulsozialarbeiter sollen die Lehrkräfte nun nicht über ihre Vorurteile belehren. Sie haben ja selbst welche – gelegentlich auch gegenüber Lehrern und Lehrerinnen. Aber das Wissen um die eigene begrenzte Perspektivität kann Grundlage für gemeinsame Erörterungen. Das macht den Reflexionsgewinn durch Schulsozialarbeit aus.

Schließlich eine letzte Überlegung. In der World Vision Studie, in der Kinder interviewt wurden, finden wir die unterschiedlichsten Erfahrungen der Kinder. Sie verweisen uns erneut auf die Verschiedenheit der Welterfahrung hier an ihrem Lebensort.

Jakob, ein Zehnjähriger aus dem Kosovo, berichtet von seinen schönen Träumen. „Doch statt sich wie andere Kinder seinen Träumen hinzugeben, wird Jakob von einer großen Angst beherrscht: dass er und seine Familie bald wieder in den Kosovo abgeschoben werden. Die Gedanken belasten ihn so sehr, dass er nachts kaum schlafen kann. ‚Nicht bisschen habe Stress, aber ganz viel‘, erklärt der Junge. Ein Bekannter hat ihm erzählt, dass die Polizei bevorzugt nachts komme, um die Familien abzuholen, und sie so, wie sie sind, wieder in das Herkunftsland zurückschicke.“ (S. 27)

Eine Elfjährige, die aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet ist, fühlt sich sicher. „Ihr Schulweg führt Shirin jedes Mal über den Bahnhof. Sie lacht, wenn sie von den dortigen Verlockungen erzählt: Drogeriemarkt, 1-Euro-Shop und Donut-Laden. Nur zu gern würde Shirin ihr Taschengeld für Klamotten, Kosmetika und Süßigkeiten ausgeben……. Einer ihrer Lieblingsorte in der neuen Heimat ist die öffentliche Bibliothek. Hier leiht sie sich Bücher und Filme aus…… Nur unweit der Bibliothek liegt noch ein wichtiger Ort für Shirin: das Stadtzentrum mit seinen Geschäften – beliebter Treffpunkt junger Mädchen. Die Elfjährige liebt es, mit den Freundinnen durch die Straßen zu schlendern und sich die Schaufenster anzuschauen.“ (S.30)

Beides ist möglich – die Faszination durch die Konsumwelt und die Angst vor der nächtlichen Abschiebung. Auch Deutschland produziert gewaltsame Vertreibung, nämlich derer, denen wir hier kein Lebensrecht einräumen. Kinder und Jugendliche haben die Flucht nicht hinter sich, sondern sie stecken mittendrin. Auch die vielen Familien aus Syrien werden kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bekommen. Wenn der Krieg tatsächlich beendet werden kann, dann wird genau jene Verdrängung stattfinden, die in Bezug auf Afghanistan schon begonnen hat. Das ist ja eine ganz brutale Form der westlichen Politik: Erst wird ein Land durch die Lieferung von Waffen und durch unglaubliche Mengen von Geld zum Aufstand getrieben, dann wird es bombardiert und sein Staat wird zerstört, weil die bezahlte Regierung nur ihre korrupten Geschäfte betreibt. Jetzt, da die Auflösung des Staates offenkundig wird und die Taliban einen Großteil des Landes beherrschen, sollen Flüchtlinge zurückkehren. Nach dem Jugoslawienkrieg waren ebenfalls viele Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland. Die meisten Familien sind in ihre Herkunftsländer zurückgegangen. Aber bis heute ziehen sich die Abschiebungen hin. Gelegentlich kommt dieser Skandal in die Öffentlichkeit, wenn sich ganze Schulen und Belegschaften gegen die Ausweisung von Familien zur Wehr setzen. Wie absurd sind diese Regelungen: Kinder leben hier unter Vorbehalt. Damit wird in elementarer Weise gegen die Kinderrechtskonvention verstoßen.

Am Ende steht deshalb ein einfacher Satz. „Kinder haben ein Recht auf den heutigen Tag.“ Janusz Korczak hat ihn formuliert und damit ein zentrales pädagogisches Prinzip formuliert. Das ist natürlich ein Prinzip, das im schulischen Alltag des Lernens für das Leben in den Hintergrund gerät. Die Schulsozialarbeiterin kann es hervorholen und Raum schaffen für pädagogische Reflexion. Im Jetzt zu lernen und herausgefordert zu werden, im Jetzt zu spielen und fröhlich zu sein, im Jetzt traurig zu sein und nachzudenken – dies haben Pädagogen und Pädagoginnen zu gewährleisten und zu fördern, damit die Kinder in ihre Zukunft, von der wir und sie selbst nichts wissen, optimistisch und selbstbewusst gehen können.

Literatur

Bundesjugendkuratorium (2008): Pluralität ist Normalität für Kinder und Jugendliche. Vernachlässigte Aspekte und problematische Verkürzungen im Integrationsdiskurs.

Fegert, Jörg M.; Plener, Paul L.; Kölch, Michael (2015): Traumatisierung von Flüchtlingskindern – Häufigkeiten, Folgen und Interventionen. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 4/2015, S. 380 – 389.

Lang, Christine; Pott, Andreas; Schneider, Jens (2016): Unwahrscheinlich erfolgreich. Sozialer Aufstieg in der Einwanderungsgesellschaft. (IMIS-Beiträge, Heft 49/2016). Osnabrück.

World Vision Deutschland, Hoffnungsträger Stiftung (Hrsg.): Angekommen in Deutschland. Friedrichsdorf 2016.

 

 

Trump – der Repräsentant des 21. Jahrhunderts.

Statement in der „Initiative für politisches Vor- und Nachdenken“ (Auch auf Türkisch: Trump – 21. Yüzyılın Temsilcisi. In: PoliTeknik.de, 15. Ausgabe vom 15.2.2017, http://politeknik.de.)   

Die meisten Medien begreifen Trump nicht, weil sie keinen Begriff von der Gesellschaft haben. Aber die modernen und miteinander globalisiert verbundenen Gesellschaften befinden sich in einer Dynamik, die als Übergang vom Kapitalismus zu einer neuen Form des Feudalismus bezeichnet werden kann. Thomas Piketty hat in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ gezeigt, wie sich die Verteilung des Reichtums in den entwickelten Gesellschaften derjenigen des 18. und 19. Jahrhunderts annähert. Der „digitalisierte Kapitalismus“ (Manuel Castells) lässt die demokratischen „Deformationen“ des 20. Jahrhunderts hinter sich und bezieht auch die aufstrebenden Gesellschaften in seine Dynamik mit ein. Nicht China ist reich, sondern die herrschende Clique. Doch nicht nur der Reichtum und die Armut verändern ihr Gesicht und die Gesellschaften, sondern auch die Kultur entledigt sich ihrer bürgergesellschaftlichen Fassaden und tritt roh als ordinäre Selbstbeweihräucherung der Herrschaft einerseits und als exquisite Stilisierung des Feinen der Wenigen andererseits hervor.

Die Irritation der meisten Medien, der Blick richtet sich lediglich auf die deutsche Szene, rührt aber zusätzlich daher, dass sie ihre Definitionsdominanz, die sie als vierte Gewalt unkontrolliert entwickelt haben, verlieren, weil ein demokratisch gewählter Herrscher zwar strukturell die Privatheit der Verfügungsgewalt über die Medien stabilisiert, inhaltlich aber sich von der „Wohlanständigkeit“ ihres und seines Selbstbildes verabschiedet. Hinzu kommt, dass die meisten „Qualitätsmedien“ in Deutschland der „US-amerikanischen Heuchelei“ (Stephen Mennell) über Frieden, Freiheit und Demokratie anhängen und als Vasallen des Imperiums seine Macht verteidigen. Sie stecken bei all ihrer Abneigung gegen den Stil des Imperators in dem Dilemma, dass sie über ihn berichten müssen und bei aller Ablehnung ihn und seine Handlungen immer bekannter machen und damit durch den Raum, den sie ihm einräumen, prominenter machen. Diesen Mechanismus hat Niklas Luhmann schon vor längerer Zeit analysiert, was aber nicht verhindert, dass in Deutschland beispielsweise die AfD mit jedem Furz, den einer ihrer Führer lässt, Themen und Beteiligungen an Talkshows bestimmt. Während der Stil Trumps verachtet wird, wird eine Politik, die sich in Bezug auf ihre Prioritäten nicht von der seiner Vorgänger unterscheidet, herbeigesehnt.

Mit Trump regiert das Kapital selbst, es benötigt nicht mehr einen „Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Kapitalistenklasse verwaltet“, wie Karl Marx und Friedrich Engels die Staatsgewalt bezeichnet haben. Die scheinbar großzügige Geste, dass Trump auf das übliche Gehalt eines amerikanischen Präsidenten (das ja ohnehin im Vergleich zu den Managereinkünften lächerlich gering ist) verzichtet, wurde bis heute eher anerkennend und nicht als Ausdruck der Verachtung gegenüber einem Einkommen aus den Steuergeldern des Volkes, das in irgendeiner begründbaren Relation zur Tätigkeit steht, bewertet. Die mit einer „Entlohnung“ üblicherweise verbundene Verbindlichkeit, die Tätigkeit auch als vertraglich geregelte Beziehung der Wechselseitigkeit zu verstehen, ist aufgekündigt. Das Land gehört dem Herrscher so wie einem Feudalherrn. Der Herrscher sucht sich seine nächsten Lehnsherren und Bediensteten an der Wall Street aus, deren Lebenssinn ebenso lediglich am Profit orientiert ist.

Auch wenn die demokratischen und rechts- und sozialstaatlichen Bedingungen die Entfaltung des modernen Feudalismus noch hemmen, kann ein Blick in Wikipedia (!) mehr die gegenwärtigen Verhältnisse beleuchten als die Lektüre der common-sense-Literatur. „Eine idealtypische feudale Gesellschaft kann durch folgende Merkmale beschrieben werden: Ein Landesherr überlässt seinen militärischen Gefolgsleuten zu deren materieller Versorgung die Nutzung von Teilen seines Landes einschließlich der darauf befindlichen Bewohner. Das feodum ist ein zum Lehen (also ein im anfänglichen Grundprinzip nur zur Leihe) übertragenes beneficium, also eine Wohltat im Sinne eines Liegenschaftsvermögens, welches nach seiner Bodenbeschaffenheit sowie personellen Ausstattung (samt der damit einhergehenden baulichen und gerätschaftlichen Ausstattung) dazu geeignet und bestimmt ist, Erträge zum Unterhalt des Lehnsinhabers zu erwirtschaften. Im Anschluss an die Lehensgüter entwickeln sich mit der Zeit herrschaftliche und wirtschaftliche Gegebenheiten, die verrechtlicht werden und die den Personenkreis, der zur Landbewirtschaftung bestimmt ist (Bauern), von der gesellschaftlichen Organisationsgestaltung im Sinne einer staatlich-politischen Willensbildung ausschließen und gleichzeitig nach oben hin, zum obersten Landesherrn, der Entstehung einer geschlossenen Staatsverwaltung entgegenwirken“ – so weit Wikipedia. Die „Jobs“, die Trump besorgen wird, dienen der Akkumulation des Reichtums von einem Prozent der amerikanischen Bevölkerung. Und die mit „Jobs“ verbundenen Sozialleistungen können die demokratischen und sozialstaatlichen Leistungen des 20. Jahrhunderts, nämlich Sicherung einer freien Bildung, Versorgung im Krankheitsfall und im Alter, nicht erfüllen. Darauf hat Piketty nachdrücklich hingewiesen und argumentiert, dass diese Sicherungen zentral für demokratische Verhältnisse sind.

Die Kultur der Herrschaft hat sich in der Figur des narzisstischen Trump schon weit entfaltet. Die Präsentation im Kreis der Familie in dem berühmten CNN – Interview am 11.November 2016 (an diesem Tag beginnt die Kampagne der Mainzer Fastnacht) und der Einzug mit dem ganzen Clan nach der gewonnenen Wahl am 9.11.2016, als „Siegesrede“ medial verherrlicht, realisiert eine Protzigkeit, wie sie einmal Fürstbischöfe und französische Könige entfaltet hatten. Die Obszönität der Reden dient der Anbiederung an die rohe Kultur reduzierter Zivilität, die Pracht der Repräsentation, von den Medien ins Wunderbare gesteigert, suggeriert eine Teilnahme durch Anschauung an der Macht für dasselbe Publikum. Viele Kommentare konzentrieren sich auf diesen doppelten Schein der Verkleidung der Macht, der Wandel der Teilhabe verbirgt sich ihnen. Welche Kultur der neue Feudalismus hervor bringt, kann man in Europa am Palast des Imperators Erdogan oder an dem im Stil einer Kathedrale (!) von Victor Urban gebauten Fußballstadion, einige Hundert Meter von seinem Geburtshaus entfernt errichtet, ablesen. Die Brosamen für das Volk werden verdeckt durch die Bewunderung der Herrschaftskultur.

Die Sozialdemokratie hatte dagegen Teilhabe verstanden als Teilhabe am materiellen Reichtum der Gesellschaft und der Verfügung über ihre Produktionsmittel für alle; jetzt reduziert sie die Teilhabe auf den Kern der Industriearbeiterschaft, der 45 Jahre lang ununterbrochen einen Arbeitsvertrag „besaß“. Die neue nationale Herrschaft versteht unter „sozial“ dann nur doch die Teilhabe durch Medienkonsum und das „Soziale“ der neuen Medien, die ein isoliertes Individuum voraussetzen, als Zugehörigkeit durch folgenloses Twittern. Die Kontrolle dieser Medien ist schon den Besitzern der Medien übertragen und noch nicht einmal mehr der Staatsgewalt zugänglich. Und für den großen Markt China stellen die Besitzer diensteifrig dem Staat die Kontrollmechanismen zur Verfügung.

Die „Kriege im 21. Jahrhundert“ (wie der von Rudolph Bauer herausgegebene Band betitelt ist) brauchen im US-amerikanischen Imperium keine weitere Modifikation. Sie sind schon in den vergangenen Jahrzehnten auf der Grundlage von Lug und Betrug entstanden und haben sich einen Kehricht um das Völkerrecht oder die Menschenrechte geschert. Für Europa gilt, dass diese feudalistisch-willkürliche Praxis mit dem Krieg gegen Serbien 1999 begonnen hat und nun als Aufrüstung gegen Russland und gegen die „Migrationsströme“ fortgesetzt wird. Wenn der industriell-militärische Komplex dem Präsidenten Trump erst einmal eingeredet hat, dass man mit Rüstung und Krieg Profit machen und „Jobs“ schaffen kann, dass auch das Niederrüsten im Kalten Krieg Profit einbringt, dann wird selbst die vermeintliche Sympathie für den russischen Präsidenten Putin schnell verdunsten.

„Flüchtlinge: Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe“. Referat beim Jugendhilfetag 2017 in Düsseldorf in der Leitveranstaltung „Flüchtlinge: Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe“ (29.3.2017)

 

Meine Damen und Herren,

als der Soziologe Niklas Luhmann noch allgemein verständlich schrieb, gehörte sein Text über Hilfe zu den klassischen Texten der Sozialarbeit. Kurz und knapp definierte er: „Immer ist wechselseitige Hilfe unter Menschen verknüpft mit dem Problem des zeitlichen Ausgleichs von Bedürfnissen und Kapazitäten.“ Wenn man diese drei Dimensionen der Hilfegewährung, nämlich Zeit, Bedürfnisse und Kapazitäten für den Bedürfnisausgleich, zu Grunde legt, dann war und ist die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland ein gelungenes Beispiel der Hilfegewährung. In kurzer Zeit konnte eine große Anzahl von Menschen mit dem Nötigsten ausgestattet werden, mit Nahrung, Unterkunft und – eingeschränkt - Sicherheit. Diese Feststellung wird untermauert durch einen internationalen Vergleich, der ebenso funktionierende wie gerade auch nicht funktionierende Aufnahme von Flüchtlingen zeigt. Die Flexibilität des kooperativen Wohlfahrtssystems hat sich bewährt.

Aber diese pauschale Feststellung muss spätestens dann differenziert werden, wenn man die Warteschlangen in eiskalten Nächten vor dem Berliner LAGESO nicht vergessen hat. Und es gibt spezifische Problempunkte des Systemversagens. Ich will einige Beispiele nennen:

  • Die Unterbringung ist auch jetzt, da es längst Verbesserungen geben kann, nicht gut. Eine sechsköpfige Familie in einem Raum für mehr als ein Jahr, das kann für Kinder und Jugendliche keine gedeihliche Umwelt des Aufwachsens sein;
  • Blockaden auf dem Wohnungsmarkt verhindern die Verteilung von Flüchtlingsfamilien über einen größeren Sozialraum und erschweren die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen am Bildungs- und Freizeitsystem; unbegleitete minderjährige Jugendliche werden mit dem 18. Geburtstag nach der relativ gut abgesicherten Versorgung in Wohngruppen in große Massenunterkünfte verfrachtet.
  • Das Bildungssystem erweist sich mehr denn je als ein System der Selektion und schützt die einheimischen Kinder und Jugendlichen vor Konkurrenz; gleichwohl sind sehr unterschiedliche Grade und Formen des Engagements der Bildungsförderung, insbesondere von Ehrenamtlichen, zu beobachten.
  • Gerade Sprachunterricht und soziale Betreuung sind nur möglich dank eines überwältigenden Engagements von Ehrenamtlichen. Wenn die Theorie des Staatsversagens eine Erklärung für das Entstehen von Wohlfahrtsverbänden ist, dann lässt sich diese Theorie heute empirisch stark machen.
  • Die Sozialen Berufe sind mehr denn je gefragt. Was für die Gesellschaft als Ganzes gilt, dass nämlich die Flüchtlinge ein echtes Konjunkturprogramm in Gang bringen, das gilt besonders für die Soziale Arbeit. Aber sie ist auch an ihre Grenzen gekommen, wenn es darum geht, kurzfristig gut qualifiziertes Personal bereitzustellen, dieses Personal adäquat vorzubereiten und für eine qualifizierte Berufseinmündung zu sorgen. Wenn Berufsanfänger*innen in einer Einrichtung für 500 Flüchtlinge zu zweit für soziale Betreuung sorgen sollen, dann ist nicht individuelles Versagen die Folge, das ist ursächlich Systemversagen.

 

Unsichere Wissensgrundlagen für eine zielstrebige Praxis

Diese Liste ließe sich verlängern, ebenso kann man natürlich auf eine Reihe gelungener Maßnahmen und Projekte verweisen. Wenn man eine solche Bilanz nicht schlüssig formulieren kann, dann liegt das daran, dass wir heute kein empirisch gesichertes Gesamtbild zeichnen können. Sicherlich sind einige Untersuchungen unterwegs und die brauchen auch ihre Zeit. Aber jetzt ist es Zeit, die analytischen Energien in die genauere Untersuchung der Problemstellen zu investieren, da wo Kinder, Jugendliche und Familien bis jetzt im Dunkel unklarer Verhältnisse leben. Die bisher vorliegenden Studien haben durchaus auf bestimmte Punkte schon hingewiesen:

Die Initiative Bildungsrecht hat vielfältige Barrieren und Blockierungen aufgedeckt, die eine uneingeschränkte Teilhabe für Flüchtlingskinder und –jugendliche verhindern. Die Robert Bosch-Stiftung verweist zusammen mit dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration auf erhebliche Mängel an Flexibilität im Bildungssystem hin. Zwar gibt es eine große Zahl von Programmschriften, Ratgebern und sogar einen vollständig ausgearbeiteten „Masterplan“ des Aktionsrats Bildung. Da ist von den „wichtigsten Bildungsmaßnahmen in der Geschichte der Bundesrepublik“ die Rede, von der „Zukunftsfähigkeit“ Deutschlands, von der „Identität“ und der „produktiven Kraft“ des Landes. Solche schönen Sätze lassen sich in erheblicher Zahl zitieren. Die praktischen Beispiele guter Integration zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass Personen sich beruflich oder ehrenamtlich engagieren, Handlungsspielräume nutzen, Vorschriften unterlaufen, bürokratische Hürden überwinden. Aber das Wissen über die Realität bleibt fragmentarisch. 

Eine besondere Anforderung ist die Überwindung von institutionellen Organisationsgrenzen. Für die Sicherung des Rechts auf Bildung sind nicht nur die Aktivitäten im Bildungssystem selbst notwendig, sondern auch eine bessere Koordination mit anderen Einrichtungen, beispielsweise der Wohnungsversorgung, des Gesundheitswesens, der Kommunalverwaltung und anderen Institutionen – auch mit dem vorschulischen Bereich, den Initiativen des bürgerschaftlichen Engagements und der Freien Wohlfahrtspflege, Betrieben und Gewerkschaften. Spätestens an dieser Stelle tauchen die Infrastrukturprobleme auf, die sich auch unabhängig von der Zuwanderung analysieren lassen. Flüchtlinge zeigen uns, dass wir eine versäulte Gesellschaft sind, die ihre Leistungsfähigkeit auch durch ein Gewirr an Zuständigkeitsregelungen sichert. Gerade die Mitarbeiter*innen der Wohngruppen für UMF und die Ehrenamtlichen, die sich dabei engagieren, lernen diese Welt mit gelegentlich schmerzhaften Erfahrungen kennen. Es gehört zu den disziplinären Stärken der Sozialpädagogik, dass sie Vernetzungen untersucht und kooperative Strukturen über institutionelle Grenzen hinweg aufbauen kann. Diese Stärke ist heute in der Jugendhilfe besonders gefragt.

Eine Grundlage für dieses Vorgehen ist die Fähigkeit, eine Situationsanalyse ohne Dramatisierung durchzuführen. Auch wenn wir keine gesicherten Kenntnisse haben, geht es nicht darum, die Elendsberichterstattung mit dramatisierenden Bildern aufzuheizen, damit möglichst viel Geld für die Hilfe locker gemacht wird. Der Preis der kollektiven Stigmatisierung ist zu hoch. Wenn also hier mehr exaktes Wissen verlangt wird, dann braucht man dieses Wissen „vor Ort“, um angemessen handeln zu können, und durchaus auch in der Öffentlichkeit, um die Verhältnisse der gelingenden „Integration“ und der problematischen Lebensbedingungen empirisch zu bestimmen. Die „Elendsdiskurse“ befriedigen nur eine fragwürdige Neugier und dienen als Legitimation für die Forderung, „die Probleme“ wieder außer Land zu schaffen.

Anspruch und Grundlagen einer angemessenen Praxis

Es geht aber noch um mehr. Angesichts des aufblühenden Rassismus in Deutschland bekommt der Artikel 29 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, der die Bildungsziele behandelt, besondere Bedeutung. Die Vertragsstaaten haben sich verpflichtet, alle Kinder und Jugendlichen „auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen sowie zu Ureinwohnern vorzubereiten“. Und für Kinder gilt: Sie brauchen ein Aufwachsen in einer gewaltfreien Umgebung – d.h. auch frei von rassistischen Bedrohungen und Anschlägen. In Deutschland muss man davon ausgehen, dass traumatisierende Erfahrungen nach der Flucht ebenso häufig sind wie vor und während der Flucht.

Die Pädagogik findet in Deutschland einen hervorragenden rechtlichen Rahmen vor, um das anzubieten, was Kinder nach der Flucht brauchen. Deutschland ist eines von 195 Ländern, die die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet haben und es hat erst 2010 den schäbigen Vorbehalt gegen die Kinder auf und nach der Flucht aufgehoben. Bei der Realisierung des Rechts auf Bildung gelten jetzt keine Einschränkungen mehr. Das Recht des Kindes auf Bildung steht jedem Kind ohne Diskriminierung zu (Art. 2). Das Wohl des Kindes muss mit Vorrang berücksichtigt werden (Art. 3), die Entwicklung des Kindes muss in größtmöglichem Umfang gewährleistet werden (Art. 6) und die Meinung des Kindes muss in Entscheidungen über die Umsetzung des Rechts auf Bildung mit Gewicht einbezogen werden (Art. 12). Auch zugewanderte Kinder mit Behinderungen genießen sämtliche Rechte. Das Besondere ist darüber hinaus, dass diese Rechte in allen Phasen des Migrations- und Fluchtprozesses gelten müssen, also nicht erst, wenn ein bestimmter Rechtsstatus erreicht ist. 

Die Kinderrechtskonvention enthält auch einen eigenen Artikel, nämlich Artikel 22, zu Flüchtlingskindern und -jugendlichen. „(1) Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder …  als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen oder in anderen internationalen Übereinkünften …  festgelegt sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.“

Vom Haager Minderjährigenschutzabkommen bis zur Kinderrechtskonvention gibt es eine Tradition internationaler Vereinbarungen und transnationaler Rechtsbindung, die es angesichts nationalistischer Einzelgänge zu wahren gilt. Einen solchen humanen Fortschritt haben die Nationalstaaten nicht zustande bekommen. Nicht die Freihandelsvereinbarungen sichern diese Humanität, sie sichern nur die Macht des Stärkeren. Bei all den heutigen Verirrungen und Verwirrungen sollten wir unbedingt den Internationalismus der Kinderrechtskonvention festhalten und aktiv verteidigen.

Wie so oft hat auch die Europäische Union „theoretisch“ keine schlechten Rahmenbedingungen als verbindlich für die Mitgliedsländer formuliert: Auch die reformierte EU-Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU), die bis zum 20. Juli 2015 umgesetzt werden sollte, gibt u. a. höhere Standards als bisher für besonders  schutzbedürftige Asylsuchende vor. „Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Schwangere haben besondere Bedürfnisse im Hinblick auf Unterbringung und Gesundheitsversorgung“. (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2015, S.5) Die Bedingungen in den „Gemeinschaftsunterkünften“ sprechen diesem Anspruch allerdings vielfach Hohn.

Von der Willkommenskultur zur Abschiebungspolitik

Aber auch die Europäische Union betreibt jetzt eine schäbige Politik. Bei Fluchtgefahr sollen nach ihrer neuesten Empfehlung abzuschiebende Menschen inhaftiert werden. Haft kommt auch für Kinder oder Jugendliche in Frage. Die EU-Kommission schreibt, dass die „Mitgliedstaaten in ihrer nationalen Gesetzgebung die Möglichkeit, Minderjährige in Haft zu nehmen, nicht ausschließen sollten“. (Migazin 3.3.2017). Und heuchlerisch wird noch ergänzt, dass die Grundrechte gewahrt werden sollten. Folter ist in Europa noch nicht erlaubt; dass sie der amerikanische Freund praktiziert, stört uns nicht.

Der Staat hat von Anfang an eine Politik mit Zuckerbrot und Peitsche betrieben. Einerseits gibt es Wege der Integration, verbunden mit den Anforderungen der Unterwerfung unter ein strenges Disziplinarregime. Gerade die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge können sich eine berufliche und eine Verbleibsperspektive erarbeiten, wenn sie konsistent und langfristig orientiert lernen und lernen und lernen. Sie müssen dabei viele andere Vorstellungen aufgeben, insbesondere die, ihre Familien unterstützen oder gar nach Deutschland nachholen zu können. Und der Wandel der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge verbaut immer mehr diesen Weg. Die vorübergehende Öffnung der Grenzen, in Wirklichkeit ja nur der temporäre Verzicht auf den Vollzug der Dubliner Übereinkommen, die über Jahrzehnte Deutschland vor Flüchtlingen geschützt haben, war möglicherweise auch ein humaner Akt. Aber seitdem gibt es nur noch Regelungen für verschärfte Abschiebungen, scheinbar sichere Herkunftsländer und Verhinderung der Familienzusammenführung. Dabei geht es nur um Politik, das heißt die Sicherung politischer Herrschaft, dem rechtsgerichteten Teil der Bevölkerung und dem Rassismus geschuldet. Gleichzeitig wird die Flüchtlingspolitik leider erfolgreich mit anderen Themen verknüpft.

Zwei thematische Blöcke sind dabei in der Medienwirklichkeit überdimensional repräsentiert und beide sind mit dem Thema Migration verknüpft. Sie machen das Thema erst zu einem Megathema und rahmen das Selbstverständnis der Gesellschaft beziehungsweise bringen es paradigmatisch zum Ausdruck. Es sind die Aspekte Bedrohung und Abwehr von Bedrohungen.

Zum einen stellt die eigene Praxis das gute Selbstbild der Gesellschaft in Frage. Die Einsicht, dass Deutschland massiv und nachhaltig in die Produktion von Fluchtursachen eingebunden ist, muss abgewehrt werden. Wir bauen keine Mauern, das machen andere. Und wenn wir Verträge mit diesen verachtenswerten Anderen machen, dann weisen wir sie auf ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen hin. Nach der Reise der Bundeskanzlerin in die Türkei und einige Tage später nach Polen konnten die Schlagzeilen aller deutschen Zeitungen lauten: Unsere Kanzlerin hat ihnen die Meinung gesagt und gezeigt, was menschenrechtlich und demokratisch richtig ist. Das war der Zweck der Reise, nämlich unsere eigenen Mauern in den Dublin-Abkommen und die teilweise unmenschlichen Abschiebungen auszublenden und uns selbst als die Wahrer der europäischen Werte zu verkaufen.

Es gibt einen großen Konsens aller Parteien und der großen Mehrheit der Gesellschaft, dass mit allen nur möglichen Mitteln eine weitere Zuwanderung von Flüchtlingen abgewehrt werden muss, koste es, was es wolle. Die „Flut“ ist kein Sprachbild mehr, sondern entspringt der pathologischen Struktur des allgemeinen Bewusstseins. Die Beschwörung der Werte übertüncht nur mühsam die Realität, dass der Westen gerade in die Herkunftsländer der Flüchtlinge nur Tod und Verderben gebracht hat. Das setzt sich heute ungebremst fort, darf aber angesichts einer repressiven Vertreibungspolitik nicht bewusst werden.

Zum anderen ist es gelungen, die Themen „Flüchtlinge“ und „Terrorismus“ so miteinander zu verkoppeln, dass jede Maßnahme zur Abwehr von Flüchtlingen als Beitrag zur Sicherheit verstanden wird. Terrorismus kommt in dieser Perspektive ebenso nur von draußen wie die Flüchtlinge. Dass dem hausgemachten rechtsextremistischen Terror gegen Fremde in Deutschland mehr Menschen zum Opfer gefallen sind, als dem sogenannten islamistischen Terror, wird unterschlagen. In keiner der schönen Reden an Weihnachten und Sylvester ist der rechte Terror in Deutschland auch nur mit einem Wort erwähnt worden, der Terror der Anderen stand im Vordergrund. Und der Terror, den unsere Verbündeten im Nahen Osten mit Hilfe unserer Waffen ausüben, wurde ebenso wenig erwähnt.

Immerhin hat das Innenministerium 2013 entschieden, „dass als Konsequenz aus der NSU-Mordserie bundesweit rund 3.300 ungeklärte Tötungen und Tötungsdelikte von 1990 bis 2011 neu überprüft werden sollen. In mindestens 746 Fällen gibt es nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamts und der Landespolizeibehörden Anhaltspunkte für ein Tatmotiv aus dem rechtsextremen Spektrum.“ (BR, 20.1.2014) Seit 2015 sind Tausende von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte verzeichnet, die rechtsextremistische Bluttat von München wird, damit der politische Hintergrund hier zum Verschwinden gebracht werden kann, individuell pathologisiert. Unerträglich sind auch die Lügengeschichten des deutschen Innenministers von „falschen Syrern“ mit gefälschten Papieren oder von Krankschreibungen vor Abschiebungen oder von den 30% Flüchtlingen, die „auf Dauer Probleme machen“. (Nachdenkseiten 23.6.2016).

Eigentlich bräuchten wir diese Heuchelei nicht. Wir haben eine ordentliche Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine freiheitliche Grundordnung. Und auch wenn wir in die Ungerechtigkeiten der Welt eingebunden sind, so könnten wir durchaus selbstkritisch unsere Probleme analysieren. Keine Partei in Deutschland will Grenzen öffnen, der übergroße Teil der Bevölkerung, und dazu zählt auch sicherlich die Jugendhilfe, wünscht dies auch nicht, das schließt zwingend die Absicherung von Grenzen ein. Diese Abschließung den Staaten der Balkanroute zu überlassen und sie dafür auch noch zu verurteilen, das ist reine Doppelmoral. Aber solange wir ungehemmt Kriegswaffen liefern, solange wir die Polizei und die Armeen der Diktatoren aufrüsten, solange die Freihandelsabkommen der Europäischen Union die Eigenproduktion in den afrikanischen Ländern zerstören, solange wir unermessliches Leid auf den griechischen Inseln dulden, solange wir unseren Fachkräftebedarf durch die Ausplünderung anderer Länder decken, so lange gibt es keine vernünftige Diskussion darüber, was wir anderen Gesellschaften zumuten dürfen.

 

Die Situation der Jugendhilfe

Der gesellschaftspolitische Rahmen ist zweifellos komplexer als hier angedeutet. Die Jugendhilfe steht unter Druck, vor allem seit sie kostenmäßig stetig gestiegen ist. Auch vor der Zuwanderung von Flüchtlingen gab es Abwehrkämpfe, so gegen das norddeutsche Staatssekretärspapier. Jetzt konnte der Angriff aus Süddeutschland, aus Bayern, gegen die Versorgung der UMF nach dem Konzept der Hilfen zur Erziehung, noch einmal abgewehrt werden. Dort soll ja auch gleich die unbegrenzte Schutzhaft wieder eingeführt werden. Die ist zwar teurer, aber soll die Rechtsradikalen beruhigen und der CSU Stimmen sichern. Und was einmal als sozialer und zugleich europäischer Fortschritt gefeiert wurde, nämlich die tatsächliche Gleichstellung der Wanderarbeitnehmer innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, wie sie in den Gründungsverträgen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verankert war, das wird jetzt der nationalistischen Schließung geopfert. Ich würde mich nicht mehr wundern, wenn die im Jahr 2010 beseitigten Vorbehalte gegen die Geltung der Kinderrechtskonvention wieder eingeführt würden. Denn dabei ging es ja gerade um die Einschränkungen für Flüchtlingskinder.

Die Jugendhilfe ist aber nicht nur von außen unter Druck. Sie muss auch prüfen, welche inneren Schwächen sie hat, und versuchen, diese zu korrigieren. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob und wie die Jugendhilfe überhaupt in den Sammelunterkünften präsent ist. Gibt es dort die Angebote der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit, der Familienberatung? Wir haben immerhin im Anspruch der Jugendhilfe und in vielen konkreten Angeboten die aufsuchende Arbeit als notwendig definiert. Warten wir mit der Beratung von Eltern, bis sie aus den Sammelunterkünften herauskommen? Und sind uns die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen überhaupt bekannt? Wo sind die Aktivitäten der Freiwilligen in den Unterkünften mit der Schulsozialarbeit vernetzt? Was ist denn tatsächlich aus den „verschwundenen Kindern und Jugendlichen“ geworden, von denen im vergangenen Jahr noch die Rede war? Wo sind die Jugendlichen, die, weil sie getrunken oder mit Drogen gedealt haben sollen, aus den Wohngruppen hinausgeworfen wurden und von denen das Jugendamt auch nichts weiß? In vielen einzelnen Dingen fühlt man sich an den Aufsatz über die „Präventivwirkung des Nichtwissens“ von Heinrich Popitz erinnert, weil das Nichtwissen auch vor vermuteter Überforderung schützt.

Der Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte an den Deutschen Bundestags aus dem Dezember 2016 stellt fest, dass für die besonders schutzbedürftigen Gruppen in den Sammelunterkünften nur unzureichend oder gar nicht gesorgt ist. (Berlin 2016) Wir wissen, dass Familien auch nach der Flucht sich in einer Dynamik befinden, die die Beziehungen untereinander und die Regeln der Kommunikation nach außen betrifft. (Kindler 2016) Auch das Festhalten an bisherigen Erziehungsgewohnheiten wird problematisch; sie können sich weiterentwickeln oder verhärten. Frühe Hilfen und Familienberatung sind unabdingbar.

Die Jugendhilfe muss stärker denn je das, was sie kann, tatsächlich leisten und in die Öffentlichkeit bringen. Sie kann nämlich zeigen, dass ihre Aktivitäten nachhaltig besser sind als die Bedrohungen durch Abschiebung. Es gibt bisher noch wenige Fälle, dass diese Bedrohungen zu dem führen, was vermieden werden soll. Die Jugendhilfe muss auch darauf hinweisen, dass die Abschiebungen der jungen Menschen Probleme nur kurzfristig verdrängen, die Probleme aber zurückkommen. Das zeigen die Analysen über die bisherigen Vernetzungen mit der Türkei. In Mittelamerika treiben die Maras, die Jugendbanden der aus den USA ausgewiesenen jungen Menschen, die Gewaltspirale in die Höhe. Die sogenannten sicheren Herkunftsstaaten Nordafrikas wissen, was auf sie zukommt. All das wird die Jugendhilfe nicht einfach verhindern können, aber sie wird dort, wo sie engagiert arbeitet, positive Perspektiven für junge Menschen entwickeln können.

Diese Prognose ist gewagt. Denn der Umfang der neuen Aufgaben ist gewaltig. Im Jahr 2016 stellten in Deutschland 745 000 Personen einen Antrag auf Asyl. Davon waren 38% unter 18 Jahren alt. Weitere 22% waren zwischen 18 und 24 Jahren alt. Das sind zusammen 60% der Asylsuchenden. Wenn man berücksichtigt, dass auch die Heranwachsenden dabei in der Regel noch eine Zeit der Bildung zu absolvieren haben, wird die Relevanz des Bildungssystems und der Unterstützung durch die Jugendhilfe sichtbar. Insgesamt sind 73% unter 30 Jahren alt. Damit haben sich die Probleme des demografischen Wandels erledigt, wenn das Bildungssystem und die Jugendhilfe jetzt entsprechend ausgestattet werden. Insgesamt 350 000 Kinder und Jugendliche sind 2015 und 2016 als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen (Unicef 2017). Für sie und die Gesellschaft muss der Ausbau stattfinden.

Eine Voraussetzung dafür ist, dass das tatsächliche Bildungsniveau der Flüchtlinge wahrgenommen und anerkannt wird. 37 % der erwachsenen Flüchtlinge haben eine weiterführende Schule besucht, 32% mit einem Abschluss nach durchschnittlich 12 Jahren, entspricht also der Hochschulzugangsberechtigung. 31% haben eine Mittelschule besucht, 22% mit Abschluss nach durchschnittlich 10 Jahren. Zwei Drittel verfügen also über eine qualifizierte Bildung. 19 % haben Universitäten besucht. 12% haben an einer betrieblichen oder anderen organisierten beruflichen Ausbildung teilgenommen und 6% haben einen Abschluss nach durchschnittlich 3 Jahren (IAB 2016). Die Anerkennung von Bildungsabschlüssen steht in keinem Verhältnis zu diesem Bildungsniveau, das die Flüchtlinge mitbringen.

Vielleicht sollten wir noch einen Blick werfen auf globale Bedingungen. UNICEF hat im vergangenen Jahr die verfügbaren Statistiken ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis, dass 31 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren außerhalb ihres Geburtslandes leben. Davon sind elf Millionen Flüchtlingskinder und Kinder, die um Asyl suchen. Weitere 17 Millionen Mädchen und Jungen sind vor Krieg und Gewalt innerhalb ihres eigenen Landes auf der Flucht (Binnenvertriebene). Man muss einen solchen Rahmen kennen, um die Begrenztheit der eigenen Betroffenheit einschätzen zu können.

Das Strukturproblem der Jugendhilfe kann man vielleicht so zusammenfassen: Sie steckt wieder tief in dem alten Widerspruch, dass sie deshalb gesellschaftlich honoriert wird, weil sie ihre als gefährlich eingestuften Adressaten von der Straße holt. Dass man ihr dabei nicht zu viel zutraut, zeigt die Diskussion nach dem Attentat von Würzburg. Aber die Jugendhilfe darf sich von den Parolen der Gewaltpädagogen nicht anstecken lassen, weil sie sonst ihre wahre Stärke verlieren würde. Ich sehe diese Stärke in der konsequenten Orientierung an einem pädagogischen Konzept.

 

Pädagogische Überlegungen

Dabei lässt man sich nicht irritieren durch die verbreitete kollektive Anamnese, dass „viele“ Kinder und Jugendliche traumatisiert seien. In diesem dramatischen Bild sind Ambivalenzen beseitigt, eine gefühlsbetonte Sicht auf das Kind überdeckt eine rationale Analyse. Das einzelne Kind kann nur noch als Fall von Hilfsbedürftigkeit wahrgenommen werden. Untersuchungen belegen die Dramatisierung nicht. (Fegert u.a. 2015). Auch der aktuelle Bericht der Bundesregierung liefert „kaum belastbare Daten“ zu den Themen Gesundheit und Traumatisierung (S. 12). Dieser Bericht ist ja einerseits ein Fortschritt, weil viele Fragen genauer beantwortet werden können, andererseits empirisch sehr fragwürdig, weil bei der „Abfrage“ von politischen und praktischen Akteuren deren Interessensperspektiven unkontrollierbar einfließen.

 Gegen die Einseitigkeit der pauschalen Behauptung von Traumata sollte ein pädagogisches Prinzip gesetzt werden, dass jedes Kind in seiner Handlungsfähigkeit, seinen Potentialen und Grenzen betrachtet werden muss (vgl. Eisenhuth 2015).

Pädagogen und Pädagoginnen sind wichtiger denn je, um Schutzraum und Sicherheit für das Kind und den Jugendlichen zu gewährleisten. Denn Traumata und die Posttraumatischen Belastungsstörungen sind keine Erfindung. Die erste aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass 22 Prozent der untersuchten syrischen Kinder und Jugendlichen unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung litten und 16 Prozent unter einer Anpassungsstörung. Viel ausgeprägter sind andere gesundheitliche Beeinträchtigungen und für die Therapie dieser Probleme wirkt sich der über lange Zeit verhinderte Zugang zu ärztlichen Leistungen ganz schädlich aus (Fegert u.a. 2015).

So wie im Falle von Kindesmissbrauch benötigen Pädagogen und Pädagoginnen eine geschulte Sensibilität für die Wahrnehmung von Umständen, bei denen die Kinder nicht mehr mit sich selbst zurechtkommen. Gefühle von Angst, Schutzlosigkeit oder Kontrollverlust kann man erkennen, ebenso regressive Vermeidungssymptome oder Übererregtheit. Pädagogisches Handeln hat in dieser Situation die Qualität zu entwickeln, eine sichere Umwelt herzustellen, Verlässlichkeit zu gewährleisten, nicht-intervenierende Akzeptanz zu vermitteln. Denn die Kinder befinden sich immer noch auf der Flucht und negative Erfahrungen, auch in der Jugendhilfe, können Teil einer, wenn es sie schon gibt, sequentiellen Traumatisierung werden (Hargasser 2014).

Wir müssen damit rechnen, dass viele Familien aus Syrien kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bekommen werden. Wenn der Krieg tatsächlich beendet werden kann, dann wird genau jene Vertreibung stattfinden, die in Bezug auf Afghanistan schon begonnen hat. Nach dem Jugoslawienkrieg waren ebenfalls viele Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland. Die meisten Familien sind in ihre Herkunftsländer zurückgegangen. Aber bis heute ziehen sich die Abschiebungen hin. Gelegentlich kommt dieser Skandal in die Öffentlichkeit, wenn sich ganze Schulen und Belegschaften gegen die Ausweisung von Familien zur Wehr setzen. Und dies hat mit Familien aus den Fluchtländern, die von Ausweisung bedroht werden, schon begonnen. Kinder leben unter Vorbehalt.

Am Ende steht deshalb ein einfacher Satz. „Kinder haben ein Recht auf den heutigen Tag.“ Janusz Korczak hat ihn gesagt und damit ein zentrales pädagogisches Prinzip formuliert. Sich daran zu orientieren reicht als pädagogische Maxime aus.

 

 

 

 

Literatur

Bericht der Bundesregierung zu dem Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher gemäß § 42e SGB VIII – Die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland. Berlin 15.3.2017

Berthold, Thomas (2014). In erster Linie Kinder. Flüchtlingskinder in Deutschland. Deutsches Komitee für UNICEF e.V.; Studie in Auftrag gegeben beim Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V.

Blossfeld, Hans-Peter u.a. (2016): Integration durch Bildung. Migranten und Flüchtlinge in Deutschland. Gutachten. Herausgegeben von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. Münster, New York.

 

Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e.V. (2016): Evaluation „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“. Zusammenfassung der Ergebnisse der 2. Zwischenauswertung. Verfügbar unter:  http://www.ikjmainz.de/tl_files/Downloads/Projekte%20und%20Verfahren/UMF/20160128_Zusammenfassung_2_Zwischenergebnisse.pdf  Zugriff: 17.3.17

Eisenhuth, Franziska (2015). Strukturelle Diskriminierung von Kindern mit unsicheren Aufenthaltsstatus. Subjekte der Gerechtigkeit zwischen Fremd- und Selbstpositionierungen. Wiesbaden: Springer.

Fegert, Jörg M./Plener, Paul L./Kölch, Michael (2015). Traumatisierung von Flüchtlingskindern – Häufigkeiten, Folgen und Interventionen. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 4/2015, S. 380 – 389.

Hargasser, Brigitte (2014): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sequentielle Traumatisierungsprozesse und die Aufgaben der Jugendhilfe. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.

IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten: Flucht, Ankunft in  Deutschland und erste Schritte der Integration (IAB-Kurzbericht Nr. 24/2016)

Imm-Bazlen, Ulrike/Schmied, Anne-Kathrin (2017): Begleitung von Flüchtlingen mit traumatischen Erfahrungen. Berlin, Heidelberg

INITIATIVE Bildungsrecht für Kinder mit Fluchterfahrung- Jetzt! Autorengemeinschaft: Thomas Berthold u.a. Freudenberg Stiftung Weinheim: September 2015.

Kindler, Heinz(2016):Gefahr im geschützten Raum. In: DJI-Impulse 3/2016. S.11 – 13.

Lewek, Mirjam und Naber, Adam/ Deutsches Komitee für UNICEF e.V., (2017): KINDHEIT IM WARTEZUSTAND. Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland.

Luhmann, Niklas (1973): Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. In: Hans-Uwe Otto/ Siegfried Schneider (Hrsg.): Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Band 1, Neuwied/Berlin, S. 21 – 43.

Pieper, Judith Henrike (2017): Retraumatisierungen bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. In: http://aeworldwide.de/2016/04/11/retraumatisierungen-bei-unbegleiteten-minderjaehrigen-gefluechteten-judith-henrike-pieper/ Zugriff: 17.3.17

Robert Bosch Stiftung/Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2016). Was wir über Flüchtlingen (nicht) wissen. Der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur die Lebenssituation von Flüchtlingen in Deutschland. Eine Expertise im Auftrag der Robert Bosch Stiftung und des SVR-Forschungsbereichs.

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2015). Kurzinformation des SVR-Forschungsbereichs 2015-2: Junge Flüchtlinge. Aufgaben und Potenziale für das Aufnahmeland.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Familie der Migrantinnen und Migranten: Die Konfrontation der Einwanderungsgesellschaft mit ihrer Vergangenheit. Zur Verabschiedung von Walter Lorenz.  Oberbozen, Haus der Familie, 26.10.2017

 

Einleitung

In dem ersten Nachruf auf Helmut Kohl im Juni dieses Jahres wurde sein besonderes Verdienst als „Familienmensch“ hervorgehoben. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als die tatsächliche Geschichte dieser Familie und die Doppelbödigkeit der Selbstdarstellung aus den Berichten der Söhne und der ersten Ehefrau bekannt gewesen sind. Dies hinderte aber nicht daran, an die berühmte Selbstdarstellung des Pfeife rauchenden Familienvaters mit seinen Kindern im trauten Familienkreis affirmativ anzuknüpfen und daraus eine Legende zu stricken. In der weiteren Entwicklung des postmortalen Familienlebens verschwand dann schnell die Charakterisierung als verantwortungsbewusster Familienvater.

Die Differenz zwischen einem empirischen Wissen und dem Mythos einer heilen Familienwelt ist konstitutiv für das Reden über Familie. Diese Differenz zu markieren ist eine methodisch notwendige Unterscheidung an der Grenze zwischen Ereignissen und ihren verhüllenden Ideologien. Sie ist nicht nur im Einzelfall erforderlich, sondern generell für die Untersuchung von Familien, die Diskurse über Familie und die gesellschaftliche Funktion der Verschränkungen von Beobachtung und Verhüllung notwendig.

Eine zweite Unterscheidung ist Teil der politischen Realität und berührt mein Thema unmittelbar. Im Bundestagswahlkampf 2017 hat eine christliche Partei die Parole “Mehr Respekt vor Familien“ plakatiert. Ihr Innenminister hat gleichzeitig das weitere Verbot der Familienzusammenführung für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz angekündigt (SZ, 7.10.17) In den Koalitionsverhandlungen um eine neue Regierung in Deutschland hat das Thema höchste Priorität. Der Respekt soll den deutschen Familien entgegengebracht werden, den Flüchtlingsfamilien mit eingeschränktem Schutzstatus soll er nicht gelten – im Gegenteil: sie sollen noch nicht einmal den Schutz der Verfassung genießen.

 

Familie als idealer Lebensraum

Die angedeuteten Gegensätze strukturieren auch meine weiteren Ausführungen.

 Einerseits ist die Familie ein idealer Ort. Für 80% der Bevölkerung ist die Familie der wichtigste Lebensbereich. „Bei Eltern mit minderjährigen Kindern sind es sogar 93 Prozent, die die Familie für den wichtigsten Lebensbereich halten. Für mehr als 90 Prozent der Bevölkerung ist es die größte Freude im Leben, zu beobachten, wie Kinder groß werden. Für über 80 Prozent der 20­ bis 39­Jährigen ist es sehr wichtig bzw. wichtig, eigene Kinder zu haben. Für fast neun von zehn Eltern mit minderjährigen Kindern steht die Familie auch für Zusammenhalt in schwierigen Zeiten.“ Diese Daten leiten den neuesten Familienreport der Bundesregierung ein (1).

Familie ist im Bewusstsein aller Gesellschaftsmitglieder die Basisinstitution gesellschaftlicher Organisation, die „Kernzelle“ oder „Keimzelle“ der Gesellschaft, die Grundlage des Lebens in einer komplexen Gesellschaft. In welcher konkreten Form auch immer wird sie entweder funktional als sozialpolitische Notwendigkeit betrachtet oder als anthropologische Gegebenheit sakralisiert. Die Ehe als Grundlage von Familie bildet in den meisten Gesellschaften eine unverbrüchliche Einheit. Gerade die Bestrebungen nach der Möglichkeit einer geschlechtshomogenen Eheschließung haben diese Gewissheit gestärkt und der Ehe mit anschließender Familie einen noch höheren Stellenwert verschafft. Schon vor der „Homoehe“ genossen Ehe und Familie uneingeschränkte gesellschaftliche Anerkennung. Dazu kann man immer neue Daten zitieren: 70% der jungen Erwachsenen sind der Auffassung, dass zum Glück des Lebens Familie dazugehört (2). Subjektives Wohlbefinden ist eng mit dem Leben in einer Familie mit Kindern verbunden. (3)  Auch wenn in jüngerer Zeit die Ehe als Voraussetzung von Familie und Kindererziehung weniger wichtig wird, hat das langfristig stabile Familienleben umso größere Bedeutung erhalten.

Familie als Problem

Aber das ist auch hier nur die eine Seite.

Einen Hinweis auf die problematischen Seiten von Familien gibt die neuere Jugendhilfestatistik (4). Die Jugendämter in Deutschland führten im Jahr 2016 rund 136 900 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durch; das bedeutet einen Anstieg um 5,7 % gegenüber dem Vorjahr. Bei gut einem Drittel der Fälle lag eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung vor, bei einem weiteren Drittel war unbedingt Hilfe für die Familie angezeigt. Besonders kleine Kinder bis zum Alter von drei Jahren sind in diesen Fällen betroffen. Vernachlässigung, psychische und körperliche Misshandlung und auch sexueller Missbrauch sind, in dieser Reihenfolge, Ursachen für Kindeswohlgefährdung.

Dass Kinder in der Familie nicht unbedingt wohlbehalten aufwachsen, zeigen auch die Daten zur Armut in Deutschland. Zwischen 2006 und 2016 ist die Armut, genauer: die Armutsgefährdungsquote, von Kindern und Jugendlichen (bis zum Alter von 18 Jahren) von 18,6% der Altersgruppe auf 20,2% gestiegen. Diese Quote ist regional unterschiedlich ausgeprägt, in Bremen beispielsweise liegt sie bei 36,6%, in Berlin bei 26,8%. Es sind 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche, die in Armut leben (5).

Politisch aussagekräftig sind diese Daten, wenn man berücksichtigt, dass diese Quoten sich nach dem Erhalt von Sozialleistungen ergeben. Die sozialen Leistungen für Familien sind also nicht in der Lage, für diese Familien Armut zu vermeiden. Dabei sind die Leistungen für Familien auf den ersten Blick beeindruckend. Rund 200 Milliarden werden im Jahr für Familien ausgegeben. Es handelt sich um 2,9% des Bruttoinlandsprodukts. Aber die Sozialleistungen wirken unsozial: Sie begünstigen die Familien mit höherem Einkommen, und die Familien im Sozialleistungsbezug erhalten das Kindergeld nicht zusätzlich – so wie andere Familien. Familienarmut ist politisch zumindest geduldet, wenn nicht beabsichtigt. Kinder sind für Alleinerziehende, für Menschen mit niedrigem Einkommen, für Arbeitslose und für Familien mit drei und mehr Kindern ein Armutsrisiko.

Angeblich ist die Angst vor Terrorismus die wichtigste Angst in Deutschland. Die Welt der Familie wird bei der Frage nach den Gefährdungen und Bedrohungen schlicht ausgespart. Dabei ist die Familie ein Ort des ausgeprägten Gewalthandelns. Jeden Tag sterben drei Kinder in Deutschland in Folge von Verletzungen. Während Jugendliche eher bei Verkehrsunfällen und durch Selbsttötung ums Leben kommen, sterben kleine Kinder nach Unfällen in der Familie oder nach Gewalt durch die Eltern. „Von allen Altersgruppen zeigen Säuglinge und kleine Kinder das höchste Risiko für Kopfverletzungen, Verbrennungen, Verbrühungen und Vergiftungen“ (6) Insgesamt wachsen knapp ein Viertel aller sechs bis 16-Jährigen mit Gewalt auf – das sind fast drei Millionen Kinder. Und rund 25 Prozent der Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren haben mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch Beziehungspartnerinnen und Beziehungspartner erlebt (7).

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung hat 2016 eine umfangreiche wissenschaftliche Expertise veröffentlicht, die von einer Gruppe angesehener Wissenschaftler erstellt wurde. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass mehr als eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. (8)  Das öffentliche Echo war marginal.

Vergleicht man systematisch die Zahl der Toten des islamistischen Terrors in Deutschland, das sind 12 Ermordete, mit der Zahl der Getöteten in Familien, dann muss man festhalten: In einem Jahr sterben mehr als zwölfmal so viele Kinder in Familien wie Personen durch Terror (2016 ist die Zahl der getöteten Kinder um 2,3% gestiegen, es sind ca. 150 Kinder). Und 28 Mal mehr Frauen sterben durch Gewalt ihres Partners wie Personen durch den Terror in Deutschland (2015: 331 Frauen Mord und Totschlag durch Partner). Diese Relationen sind nicht überraschend, interessant ist aber, wie sie im gesellschaftlichen Bewusstsein verarbeitet werden. Das immunisiert gegen jede Relativierung, das heißt: In-Beziehung-Setzen von Sachverhalten.

Doch zunächst zur

 

Familie mit Migrationshintergrund

Genau ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland hat einen Migrationshintergrund – 20,3%. Bei den Familien mit Kindern haben die Familien mit Migrationshintergrund aber einen Anteil von 31%. Von allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland leben 34% in Familien mit Migrationshintergrund. Diese Daten signalisieren schon den Umstand, dass die eingewanderte Bevölkerung jünger ist als die einheimische und über einen zahlreicheren Nachwuchs verfügt. Das demografische Problem besteht für sie vorläufig nicht – im Gegenteil: diese Familien lösen das demografische Problem der Republik.

Bei den Familien mit einem oder mit zwei Kindern sind Familien mit oder ohne Migrationshintergrund gleich stark vertreten. Lediglich bei Familien mit drei und mehr Kindern entsteht eine Differenz von 8 zu 13%. Und bei den Alleinerziehenden gibt es bei den Familien ohne Migrationshintergrund einen Anteil von 16%, bei denjenigen mit Migrationshintergrund dagegen von 10%. Familien mit Migrationshintergrund beruhen auch häufiger auf einer förmlichen Eheschließung – 92 zu 84% sind hier die Daten. Schließlich sind die Mütter mit Migrationshintergrund deutlich jünger bei der Geburt des ersten Kindes als die einheimischen Mütter.

Das sind die sozialstatistischen Daten, die im gesellschaftlichen Bild freilich vergrößert werden. Die Familien mit Migrationshintergrund, insbesondere die als „ausländische Familien“ wahrgenommenen, erscheinen als Familienverband, dem Zusammenhalt und wechselseitige Unterstützung zugeschrieben wird. Dieses Bild entsteht vor allem, wenn Familien mit Migrationshintergrund gemeinsam in der Öffentlichkeit erscheinen, gemeinsam einkaufen oder Freizeitstätten aufsuchen. Besonders anschaulich sind die Bilder vom Familienausflug am Wochenende in die städtischen Grünanlagen. Sie sind gewissermaßen der Inbegriff des Bildes von der Migrantenfamilie. Dass der Grillausflug in die Öffentlichkeit möglicherweise mehr mit der Wohnungsgröße und dem fehlenden Garten zu tun hat, tritt bei dieser Wahrnehmung natürlich in den Hintergrund. Bei den älteren Einheimischen aber wird auch das Bild der eigenen Kindheit wach, zu der ein Familienausflug „ins Grüne“ selbstverständlich dazugehörte. Er war auf jeden Fall lebendiger und freier als die heutige moderne Familienfeier im eigenen Garten, wenn vier bis sechs Erwachsene ihre Aufmerksamkeit auf ein bis zwei Kinder richten und diese keinen unbeobachteten Schritt machen können.  

Die migrantische Familie wird selbst in den Dokumenten der Bundesregierung verklärt: „Gelebte Vielfalt“ heißt der Bericht über Familien mit Migrationshintergrund; ganz nüchtern dagegen der Titel des allgemeinen Familienreports 2017: „Leistungen, Wirkungen, Trends“. Hier dominiert das funktionalistische Bild der Familie, die sozialpolitisch in die Pflicht genommen wird.

 

Die Daten über Armut sehen erheblich anders aus, wenn man den Bildungsstand und das Einkommen der Eltern berücksichtigt. Bei sozioökonomischer Gleichheit verschwinden sowohl die Unterschiede im Bildungserfolg wie auch hinsichtlich der Armutsgefährdung. Diese liegt bei Familien mit Migrationshintergrund bei 57% und ist bei Familien ohne Migrationshintergrund mit 58% ein Prozentpunkt höher, wenn die Familien nur einen basalen Bildungsabschluss erworben haben. Die gesellschaftliche Wahrnehmung hebt ab auf die ethnische Unterscheidung, die Realität der Lebenslage wird aber von den materiellen Bedingungen bestimmt. Hinzu kommen freilich die rechtliche Ungleichheit im Falle des Ausländerstatus und die soziale Diskriminierung. Die öffentliche Wahrnehmung orientiert sich an der Kultur, die Lage der Familie wird aber von der Struktur der Gesellschaft mit ihren Statuslinien bestimmt.

Hinzu kommen jedoch spezifische Bedingungen des Wohnumfeldes. Migrationsfamilien leben überwiegend in Städten und dabei in den benachteiligten Stadtbezirken. Diese Stadtteile sind weder ethnisch homogen, noch gibt es besonders häufig interkulturelle Freundschaften mit den einheimischen Unterschichtangehörigen. Die für die Entwicklung der Kinder besonders wichtigen öffentlichen Einrichtungen leiden mehr als in anderen Stadtteilen unter Qualitätsmängeln und Ausstattungsdefiziten, so Kindertagesstätten, Schulen sowie Freizeiteinrichtungen. Die multikulturelle Stadtgesellschaft mobilisiert sicherlich auch Gegenkräfte und bürgerschaftliches Engagement. Doch bleibt dies fragil, weil die freiwilligen Ressourcen begrenzt sind und leicht aufgebraucht werden können.

Ganz anders verhält es sich mit der Wahrnehmung der deutschen Bevölkerung in Bezug auf die eigene Geschichte der Familie. Die Wirklichkeit früherer Familien wird als harmonisch vorgestellt, als sich wechselseitig stärkender Familienverband mit generationsübergreifenden Beziehungen. Hartnäckig hält sich das Bild von der Großfamilie – eine geschichtliche Wirklichkeit nur weniger Menschen. Die „Ökonomie des Ganzen Hauses“ mit seinen vielfältigen Personengruppen, in der lediglich die Besitzerfamilie das Recht auf Heirat und Familiengründung besaß, wird fälschlicherweise als Großfamilie bezeichnet. Die Zwänge des Zusammenlebens in diesen Lebensformen werden ebenso verdrängt wie die Belastungen in der sich herausbildenden Kleinfamilie, die alle Funktionen der Produktion und Konsumtion, der Erziehung und der Erholung gleichzeitig zu bewältigen hatte und hat. Das ist dann nämlich die Geschichte der Familienfrauen, die in der männlichen Geschichtsschreibung nicht an vorderer Stelle steht.

Die Wahrnehmung der ausländischen Familie wird durch ein spezifisches Dilemma zugespitzt: Einerseits werden Familien und Haushalte stetig kleiner und können kritische Situationen weniger gut bewältigen. Gleichzeitig werden sozialpolitische Leistungen begrenzt, insbesondere in der Krankenversorgung und Pflege, so dass die kleineren Familien mehr Funktionen erfüllen müssen. In dieser Situation gibt es entweder die Forderung nach Ausweitung der Familie in die „kleinen Lebenskreise mit kommunaler Einbindung“ (9) oder eben die Hoffnung auf die große Familie mit Migrationshintergrund.

Aber auf der Grundlage der Daten und jenseits von Projektionen kann die Lage der migrantischen Familie ebenfalls nur als ambivalent charakterisiert werden. Einerseits sind diese Familien stark in dem Sinne, dass sie die Belastungen der Migration, der Anpassung an neue Lebensverhältnisse, der Selbsthilfe in Armutslagen bewältigen, auf die verwandtschaftliche Unterstützung zurückgreifen können, Phasen der Trennung aushalten und die häufige Transformation der Familie nach der Zusammenführung ertragen oder gestalten. Die Verantwortung für die gute Erziehung der Kinder wird bewusster wahrgenommen und als Leistung anerkannt. Die Bildungsaspirationen für die Kinder sind hoch, die Unterstützung der Kinder für schulische Aufgaben ist engagiert, wenn auch manchmal ungeschickt.
Andererseits aber ist die förderliche Kohäsion im Migrationsprozess mit besonderen Verpflichtungsgefühlen verbunden. Das Individuum kann sich auf jederzeitige Unterstützung verlassen, es wird aber auch eingebunden und in die Pflicht genommen. Im Übergang zu hochgradig individualisierten Gesellschaftsformen ist dieser Umstand eine zusätzliche Herausforderung. In dieser Hinsicht zeigen Studien, dass sich bildungserfolgreiche Migrantenjugendliche sowohl ihrer Herkunftsfamilie verpflichtet fühlen und eingebunden sind als auch ihre individualisierte Lebensführung in modernen Bildungsinstitutionen realisieren können.

Wenn freilich die Migrantenfamilien dauerhaft in Armut leben und wenn die äußere Einbindung in die Gesellschaft erschwert wird, dann sind auch Migrantenfamilien überlastet und binden ihre Mitglieder in hohem Maße. Gerade dabei können individuelle Entwicklungsmöglichkeiten blockiert werden. Armut und gesellschaftliche Zugangsbarrieren erklären das Maß an Gefährdung und Belastung. Halten diese Bedingungen im Generationenwechsel an, dann nehmen auch in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund soziale Probleme zu. Zunächst aber befindet sich der Großteil der zugewanderten Familien in einer Dynamik des sozialen Aufstiegs und partizipiert stärker auch an Bildung, als es die Kennziffern der sozialen Lage erwarten ließen. Auch orientieren sich die Verhaltensmodelle gerade bei Frauen und Jugendlichen an modernen Konzepten der Selbständigkeit und Berufstätigkeit mit angemessener familialer Bindung. Lediglich die Werte des Familialismus, der Einstellung zur Sexualität und zur Rolle der Religion differieren in Migrationsfamilien statistisch von den Werten der einheimischen Familien.

Problematisch bleibt die Persistenz kulturell verankerter Gewohnheiten. So sind die Gewaltpotentiale in verschiedenen Familienformen besonders hoch. Deutlich mehr Frauen aus Migrantenfamilien als aus einheimischen Familien berichten von Gewalterfahrungen. Auch die Erziehung der Kinder und Jugendlichen greift mit Selbstverständlichkeit auf körperliche Gewalt zurück und beeinträchtigt die Entwicklung einer balancierten Selbstständigkeit (10). „Unter Berücksichtigung der Nationalität und des Geschlechtes sind die höchsten verletzungsbedingten Sterberaten von allen Altersgruppen bei Säuglingen ausländischer Nationalität festzustellen“. (11)

 

Schluss

Diese Widersprüche und die Unterschiedlichkeit der Perspektiven bleiben in der Regel unbedacht – sie gehören zum kollektiv Verdrängten, dessen Aufdeckung Widerstand hervorrufen muss. Denn die Aufdeckung schmerzt, wenn gewohnte Wahrnehmungsschablonen sich als falsch und irreführend erweisen. Ist man an der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung interessiert, dann kann die Verdrängung des Unangenehmen, hier der Verstöße gegen das positive Selbstverständnis der Gesellschaft, akzeptiert werden. Denn nach der Hypothese von Heinrich Popitz (12) kann der Dunkelziffer eine normstabilisierende Kraft zugeschrieben werden. Würde das tatsächliche Ausmaß von Normabweichungen bekannt, müsste dies das Normensystem schwächen. Bei Ahndung aller Normenbrüche müsste sogar das Normensystem zusammenbrechen. Damit wäre das Bild der Familie, der eigenen wie der fremden, in Gefahr.

Es ist auch nicht zu erwarten, dass überraschende Änderungen eintreten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn aggressive Vorurteile oder romantisierende Ansichten, die bekanntlich schnell in das Gegenteil der Verdammnis umschlagen können, gemildert würden. Die vorsichtig geförderte Einsicht in Ambivalenzen begünstigt Lernprozesse, die auch in der institutionalisierten Bildung von Schulen eingeleitet werden können.

Die enge Fokussierung auf Familie ist weder therapeutisch und pädagogisch noch politisch hilfreich, denn sie würde die Familie unter Druck setzen und ihre Kapazitäten leicht überstrapazieren. Die Bedingungen von Familien können dagegen direkt beeinflusst werden. Die Armutsstudien zeigen, dass es dabei um die Familien mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen geht. Sie zeigen auch, dass es um die Qualität der Infrastruktur geht, also um gute Schulen, bestausgestattete Kindergärten und um attraktive Freizeiteinrichtungen für alle belastete Familien. Mit den Widersprüchen der Familienbilder wird die Gesellschaft ohnehin leben müssen – das verlangt ihr Bestandsinteresse.

 

 

Anmerkungen

(1)  Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Familienreport 2017.

(2)  Institut für Demoskopie Allensbach: Monitor Familienleben 2013. Einstellungen der Bevölkerung zur Familienpolitik und zur Familie.

(3)  Datenreport 2016, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB).

(4)  Pressemitteilung Destatis Nr.350 vom 4.10.2017.

(5)  Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, BIAJ-Materialien vom 16.9.2017.

(6)  Elsäßer Gabriele (2012): Unfälle, Gewalt, Selbstverletzung bei Kindern und Jugendlichen 2012. Ergebnisse der amtlichen Statistik zum Verletzungsgeschehen 2010. Fachbericht. Statistisches Bundesamt [Hrsg.], Wiesbaden, S.6.

(7)  Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Hintergrundmeldung „Frauen vor Gewalt schützen. Häusliche Gewalt“.

 (8)  Andreas Jud, Miriam Rassenhofer, Andreas Witt, Annika Münzer & Jörg M. Fegert: EXPERTISE Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch Internationale Einordnung, Bewertung der Kenntnislage in Deutschland, Beschreibung des Entwicklungsbedarfs, hrg. vom Unabhängigen Beauftragten für Sexuellen Kindermissbrauch.

(9)  Robert Bosch Stiftung (Hrsg.): Starke Familie – Solidarität, Subsidiarität und kleine Lebenskreise. Bericht der Kommission „Familie und demografischer Wandel“. Stuttgart 2009.

(10)  Ursula Boos-Nünning: Migrationsfamilien in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland. WISO direkt, September 2011.

(11) Elsäßer, S. 6

(12) Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe; zuerst Mohr, Tübingen 1968; BWV, Berlin 2003.

 

 

 

Zur Gründungsgeschichte des Zentrums für Schul- Bildungs- und Hochschulforschung. Johannes Gutenberg – Universität Mainz, 7. Juni 2018

 

Mein Beitrag ist ja zwischen Zeitzeugenbericht und Wissenschaftsgeschichte platziert. Da vermischen sich individuelle Perspektiven mit nachprüfbaren Sachverhalten. Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre eigene Geschichte betrachten, dann dominiert in der Regel die Orientierung am hehren Wissenschaftsideal der selbstlosen Suche nach Erkenntnis. Dies ist auch immer irgendwie der Fall, aber vermischt sich mit den persönlichen Interessen und den Strategien der Fächer. So verhält es sich natürlich auch mit der Entwicklung des ZBH.

Die drei Fächer und das ZQ, die das ZBH aus der Taufe gehoben haben, waren in den Anfangszeiten daran interessiert, ihre schlechte Position bei der Einwerbung von Drittmitteln, und das gilt für alle drei Fächer, zu verbessern. Der Anteil der Lehre, die allgemeine Prüfungsquote und die der Absolventen waren gerade in diesen Fächern hoch, so dass die Bildung des Interdisziplinären Arbeitskreises eine vielversprechende Aussicht auf Profilierung in der Forschung versprach.

Aber dies nur unter der Bedingung, dass als Preis für den Zugang zu den Fleischtöpfen der Forschungsfinanzierung der Mehraufwand für Interdisziplinarität bewusst war. Und es war in der Folge durchaus nicht so, dass die Anteile der Investition an persönlichen Ressourcen für die Kooperation gleichmäßig eingebracht wurden.

Generell lässt sich vorab schon sagen, und dabei kann man auf viele Evaluationen der Interdisziplinarität zurückgreifen, dass der Mehraufwand als Kapital für interdisziplinäre Forschung dem Ergebnis als vermutetem Mehrwert gegenübergestellt wird und diese Kalkulation selten genug positiv ausfällt. Jedenfalls helfen auch hier zur Analyse die Kategorien des in diesem Jahr hochverehrten Karl Marx.

Die Gründung des ZBHs steht in einem Entwicklungszusammenhang, den ich nur kurz erläutern will.

Schon Mitte der 1980er Jahre legt der damalige Universitätspräsident Beyermann erstmalig einen Forschungsbericht der gesamten Universität vor, der in Zusammenarbeit mit den Fachbereichen erarbeitet wurde. Seit Anfang der 1990er Jahre lässt sich eine Intensivierung der Forschungspolitik in Rheinland-Pfalz konstatieren. Aus dem Land der Reben und Rüben soll ein moderner Wissenschaftsstandort gemacht werden. Zur neueren Modernisierungsstrategie der Forschungspolitik zählen „Netzwerke, Cluster und Kompetenzverbünde“, die nach innen Koordinierungsleistungen erbringen und nach außen die Verknüpfung von Forschung, Entwicklung und Anwendung systematisch organisieren.

Ein anderes Instrument ist die „Stiftung Rheinland-Pfalz für Innovation“. Der besondere Vorteil dieses Instruments für die Landesregierung besteht darin, dass eine Steuerung der Forschung und Technologieentwicklung durch die Landesregierung möglich ist und nicht wie bei den Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen deren Eigensteuerung eine „intervenierende“ Einflussgröße darstellt. Diese Stiftung wurde aus dem Verkauf von Landesbesitz finanziert. Aber auch für die Universitäten und Hochschulen werden sukzessive Forschungsprogramme aufgelegt, die im Laufe des neuen Jahrhunderts bis heute faktisch institutionalisiert werden.

Der Interdisziplinäre Arbeitskreis Hochschul- und Bildungsforschung war die institutionelle Quelle des heutigen ZSBH. Er wurde 2003 gegründet und versammelte 15 Wissenschaftler, auch von außerhalb der Universität Mainz. Dr. Uwe Schmidt war die treibende Kraft hinter dieser Gründung, die vor allem von Vertretern der Soziologie getragen wurde. Der Initiative gehörte schon Dr. Frauke Choi an, die über lange Zeit die Geschäftsführung des Interdisziplinären Arbeitskreises und des ZBHs besorgte. 

 

Bei der zweiten Tagung des Interdisziplinären Arbeitskreises Hochschul- und Bildungsforschung an der Universität Mainz im Jahr 2004 hat Stefan Hradil die Absichten dieses Arbeitskreises so beschrieben: „Wir bemühen uns, solche Forschungsprojekte zu initiieren und zu koordinieren, die helfen, Bildungsprozesse zu erklären, Bildungsprozesse zu organisieren und zu steuern“ (Grußwort, S.7). Der Arbeitskreis hatte nach einigen internen Veranstaltungen im Wintersemester 2003/4 die erste größere Tagung mit dem Thema „Soziale Herkunft und Bildungsoptionen“ durchgeführt. Dabei ging es darum, sowohl die materiellen Chancenstrukturen wie auch immaterielle Chancenstrukturen in Milieubindungen zu untersuchen. Im darauffolgenden Semester widmete sich der IAK der Frage „Was erwartet die Politik von der Hoch-schul- und Bildungsforschung“. Die Tagung im Jahr 2005 hatte dann den Schwerpunkt „Steuerungswissen im Bildungssystem“. Stefan Hradil hat die Erkenntnisabsichten folgendermaßen benannt: „Wir wollen unter anderem danach fragen, welche Art von Kenntnissen wir zur Steuerung von Bildungseinrichtungen besitzen, welche wir benötigen, wie die Verarbeitung vorhandenen Wissens verbessert werden kann, was Steuerung eigentlich heißen kann und wie Steuerung eher nicht vollzogen werden sollte, wie Wissenschaft und Politik dabei zusammen wirken können.“ Dieser Themenschwerpunkt hatte sich nicht nur als Ergebnis von Lesebemühungen in der wissenschaftlichen Literatur ergeben, sondern insbesondere aus der Arbeit des Zentrums für Qualitätssicherung und -entwicklung, dessen Leiter Prof. Dr. Uwe Schmidt sowohl den Arbeitskreis als auch den Aufbau des ZBH wesentlich beeinflusst und praktisch vorangetrieben hat. Die Sprecher des Arbeitskreises waren zwar die Professoren Hradil und Hamburger, aber der Inspirator und Motivator ist Uwe Schmidt gewesen.

Er hat den Übergang vom Interdisziplinären Arbeitskreis zum ZBH folgendermaßen charakterisiert: „Hiermit setzt das ZBH die bereits im Interdisziplinären Arbeitskreis Hochschul- und Bildungsforschung begonnene Initiative fort, Foren für bildungs- und hochschulrelevante Themen bereit zu stellen, die den Austausch zwischen Forschung, Praxis und Politik intensivieren sollen. Dies entspricht der grundlegenden Intention des Zentrums, interdisziplinäre Forschung sowohl innerhalb als auch an den Schnittstellen zwischen Bildungsinstitutionen zu fördern und gleichzeitig Grundlagenforschung und Anwendungsbezug eng miteinander zu verknüpfen“. (Vorwort, S. 1)

Faktisch dienten die Veranstaltungen mit ihren Debatten der Aufarbeitung der PISA-Studien und vor allem der Frage, wie die Neuorientierung des Bildungssystems in Gang gebracht werden und welche Steuerungsstrategien dabei effektiv eingesetzt werden könnten. Man verspürt an solchen Programmatiken noch ganz den Geist technokratischer Beherrschungsstrategien, der sich nach PISA entfaltet hatte. Für die Position der Bildungsforschung, die ja immer wieder mit weitreichenden Versprechungen angetreten ist, sollte das Versprechen des Anwendungsbezugs Legitimation in der Politik beschaffen, innerhalb des universitären Forschungsbezugs war das nicht mit Prestigegewinn verbunden. So sehr die ordinäre Frage von Studierenden, was ihnen die Inhalte des Studiums beruflich nützen würden, abgewehrt wird, so sehr wird auch der berühmte Praxisbezug in der Forschung diskreditiert.

Im Anschluss an die letzte Tagung des IAK erarbeiteten die Mitglieder des IAK den Antrag für das interdisziplinäre Zentrum für Bildungs- und Hochschulforschung, das zum Beginn des Wintersemesters 2005/06 als „Schwerpunkt“, wie die formelle Bezeichnung lautete, seine Arbeit aufgenommen hat. Diese Vorarbeiten führten zudem zu einer angemessenen inhaltlichen Positionierung der Universität Mainz im Bereich der Bildungs- und Hochschulforschung im Rahmen der landesweiten Arbeitsgruppe Bildungsforschung, zu der die Minister Zöllner und Ahnen Vertreter rheinland-pfälzischer Hochschulen eingeladen hatten. Die Denkschrift dieser landesweiten Arbeitsgruppe bereichert sicherlich die Archive der Hochschulen und des zuständigen Ministeriums. Bevor neue Pläne zur Kooperation zwischen den Hochschulen des Landes wieder geschmiedet werden, könnte es hilfreich sein, solche Dokumente und ihre Geschichte zur Kenntnis zu nehmen.

Ähnlich ging es ja auch einer Wissenschaftlichen Kommission des Landes zum kürzlichen Modethema Demografie. Mehr als 50 Professoren und Professorinnen aus dem Land, die sich hauptsächlich oder teilweise mit demografischen Fragen beschäftigten, trafen sich in dieser Kommission und wurden zur Zusammenarbeit ermuntert. Aber auch hier zeigte sich, dass ohne finanzielle Förderung eine solche Kooperation, soweit ich das übersehe, an keiner Stelle zustande kam. Ohne Moos nix los! Wahrscheinlich sind gerade die Hochschulen und Universitäten von der Kultur der Singularitäten bestimmt.

Dennoch kann in dem Übergangsantrag vom IAK zum ZBH festgehalten werden, dass die Vernetzung innerhalb der Universität auch die Medizinische Psychologie und Soziologie, das Naturwissenschaftliche Laboratorium für Schüler*innen und die Zentren für Interkulturelle Studien, Lehrerbildung, Qualitätssicherung und –entwicklung sowie zur wissenschaftlichen Weiterbildung einschließe. Die internationale Vernetzung war dagegen nur durch Aktivitäten zweier Wissenschaftler dokumentiert.

Die Initiative zur Einrichtung eines Zentrums für Hochschul- und Bildungsforschung an der Johannes Gutenberg – Universität Mainz, bestehend aus 18 Personen stellte am 29. Juni 2005 einen Antrag an den Präsidenten der Johannes Gutenberg – Universität auf Einrichtung einer Arbeitsstelle für Hochschul- und Bildungsforschung (ZHB). Mit der Einrichtung einer Arbeitsstelle war die Anpassung an die Ausschreibungsprogrammatik vorgenommen worden, gleichzeitig wurde signalisiert, dass eine Aufwertung der Arbeitsstelle direkt beabsichtigt sei. Die konstituierende Sitzung für das ZBH aus dem IAK heraus hatte am 3.Feburar 2005 stattgefunden.

Interessant ist die Zusammensetzung: 10 der Antragsteller*innen kamen aus der Pädagogik, drei aus der Soziologie, zwei aus der Psychologie, zwei aus dem ZQ und ein Professor aus der Wirtschaftspädagogik. In den ersten Jahren der Arbeitsstelle und dann des Zentrums hat die tatsächliche Beteiligung mit Projekten und Anregungen weitgehend dieser Struktur der Fachbeteiligung entsprochen.

Allerdings muss man festhalten, dass die Beteiligung der Psychologie eher deklaratorisch blieb und lediglich auf einem werbenden Gespräch mit der Bitte um Beteiligung beruhte. Das hat sich ja mit dem Engagement von Kollegin Imhof verändert. Die für das Zustandekommen interdisziplinärer Zusammenarbeit relevanten Bedingungen kann man an diesem Beispiel gut erkennen: Persönliche Anstrengung von Innovatoren ist eine notwendige Bedingung; sie führt aber nicht zu aktiver Beteiligung, wenn der erwartete Nutzen nicht durch das absehbare Arbeitsengagement gerechtfertigt erscheint. Zum anderen ist bedeutsam, in welcher Dynamik die individuellen Forschungsplanungen bei Wissenschaftlern stecken und wie diese Dynamik mit der eines Kooperationszusammenhangs synchronisiert werden kann. Größere Projekte sind dann zustande gekommen, wenn individuelle Interessen zu einem bestimmten Zeitpunkt mit Fragestellungen des Zentrums konvergieren und die persönlichen und methodologischen Gesichtspunkte ebenfalls vereinbar erscheinen – so ist das z.B. bei einem Projekt unter Leitung der Wirtschaftspädagogik möglich gewesen.

Die Interessenslagen der beteiligten Disziplinen waren teilweise kongruent, teilweise konkurrent. Die Pädagogik sah wohl eher die Chance, durch empirische Forschung ihre disziplinäre und akademische Position zu verbessern. Die Soziologie war deutlich an der Akquise von Forschungsgeldern interessiert. Allerdings gab es bei ihr auch Fachvertreter, beispielsweise in der Person des kürzlich verstorbenen Kollegen Manfred Hennen, deren Interesse sich auch auf die Pflege eines akademischen Diskurses in interdisziplinärer Kultur bezog. Vielleicht wird dieses Interesse heute noch durch Frau Borst verkörpert. 

Das ZQ, das im weiteren Verlauf einen besonders aktiven Part spielte, war an einer Verknüpfung seiner pragmatischen Evaluations- und Entwicklungsaufgaben mit eher handlungsentlasteten Forschungsvorhaben orientiert. Mit solchen Projekten aus der Pädagogik und aus dem ZQ konnte in der Anfangszeit der Anteil der eingeworbenen Forschungsmittel in kurzer Zeit erheblich gesteigert werden. Gleichzeitig aber wurde dadurch das Image der Arbeitsstelle und des Zentrums weg von der Grundlagenforschung gelenkt. Erst allmählich gerieten solche Projekte ins Blickfeld, ganz abgesehen davon, dass sie ohnehin längere Vorlaufphasen brauchen.

Der Antrag auf Einrichtung einer Arbeitsstelle war der wichtige Schritt zur Bildung zur organisatorischen Verfestigung der vorgängigen interdisziplinären Zusammenarbeit. Im Antrag wurde das Vorhaben zusammengefasst so beschrieben:

„Ziel der Initiative ist die Gründung zunächst einer Arbeitsstelle, perspektivisch eines Zentrums für Hochschul- und Bildungsforschung (im Folgenden: ZHB), das als interdisziplinäre Einrichtung an der Universität Mainz angesiedelt sein soll. Aufgabe des Zentrums soll es sein, jenen Forschungsbedarf zu bearbeiten, der im gegenwärtigen Kontext erhöhter Transformationsanforderungen an institutionalisierte Bildung entsteht bzw. entstanden ist. Das Profil des ZHB soll so weit gefasst werden, dass sowohl Grundlagenforschung als auch anwendungsorientierte Praxis-forschung, auch im Sinne von Praxisbegleitung und Politikberatung, betrieben werden kann. Neben der interdisziplinären Verknüpfung der sozialwissenschaftlichen Institute der Universität Mainz soll sich das ZHB auch um eine regionale Vernetzung der hinsichtlich des thematischen Zuschnitts relevanten weiteren Forschungsstandorte in Rheinland-Pfalz, aber auch über die (Bundes-)Ländergrenzen hinweg bemühen. Im ZHB sollen die spannungsvoll zueinander stehenden Interessen von Forschung, Politik und Praxis produktiv vermittelt werden. …

Das ZHB soll in 2005, personell und institutionell vorerst am Fachbereich 02 verankert, als Arbeitsstelle eingerichtet werden. Hierfür werden – soweit kapazitär möglich und vertretbar – Personalressourcen durch den Fachbereich 02 und kooperierende Einrichtungen bereitgestellt, die möglichst durch Mittel der Universitätsleitung zu ergänzen sind. Nach einer zweijährigen Anschubphase ist über einen Ausbau der Arbeitsstelle zu einem dauerhaft institutionalisierten Forschungszentrum zu entscheiden.“

 

Die Programmatik des Zentrums wurde in einem Satz des Antrags formuliert: „Die Wissensgesellschaft braucht Bildung“. Der Begriff der Wissensgesellschaft war seiner Zeit en vogue. Die kontinuierliche Modernisierung verbraucht manche Kategorien und Begriffe, aber Wissen kann sie nicht genug produzieren. Der Begriff der Bildung dagegen bildete den Kontrast einer jenseits der kulturpolitischen Konjunkturen angesiedelten Reflexion und insistiert auf einem reflexiven Begreifen des Wissens. Diese analytisch-normative Spannung des Satzes konnte die breite Programmatik des ZBH am besten abbilden.

Auf 67 Seiten werden im Gründungsantrag

-           Das Verständnis von Bildungsforschung erörtert,

-           Der Bedarf an einer solchen Forschung und das spezifische Potential der eigenen Universität vorgestellt,

-           Darüber hinaus werden 14 abgeschlossene Projekte, 9 laufende und 29 geplante Projekte aufgeführt.

Abgeschlossen wird der Antrag mit den eindrucksvollen Referenzen der Antragsteller*innen, übrigens damals 13 Männer und 5 Frauen. Ich vermute, dass sich dieses Verhältnis geändert hat.

Auch diese Referenzen über die Arbeitsschwerpunkte der Antragsteller*innen zeigen eine beeindruckende Vielfalt und enorme wissenschaftliche Leistungen auf, dem kritischen Betrachter aber auch die Zusammenhanglosigkeit der meisten Themen und dem kundigen Insider die Unterschiedlichkeit der zugrundeliegenden theoretischen und methodischen Konzepte.

Insgesamt muss man die terminologische Geschichte des heutigen Zentrums in die Reihenfolge bringen, wobei der Wechsel der Bezeichnungen für dieselbe Anstrengung der Unstetigkeit einer Profilbildungsstrategie geschuldet ist:

Interdisziplinärer Arbeitskreis Hochschul- und Bildungsforschung; dieser hat mit einer Pressemitteilung vom 21.Mai 2003 das Licht der Welt erblickt.

Arbeitsstelle für Hochschul- und Bildungsforschung

Forschungsschwerpunkt Bildungs- und Hochschulforschung

Zentrum für Bildungs- und Hochschulforschung

und schließlich

Zentrum für Schul-, Bildungs- und Hochschulforschung.

 

Aber trotz aller Vorsicht vor Selbstlob und Eigenwerbung muss man festhalten: Das ZBH gehört zu den anerkannten Forschungsschwerpunkten dieser Universität. Im Bericht über die Profilbildungsstrategie der Johannes Gutenberg – Universität von 2008 wird die Hochschul- und Bildungsforschung auf der mittleren Stufe dieser Profilierungsstrategie angemessen gewürdigt. Die eingeworbenen Drittmittel, die selbstorganisierten Projekte, die Tagungen und Publikationen sowie die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses haben ein wissenschaftliches Kollektivwerk entstehen lassen, das sich sehen lassen kann. In einem Schreiben vom 12.Septermber 2006 an den Präsidenten haben wir darauf hingewiesen, dass im ersten Jahr der Förderung die Mittel der Universität durch die Drittmitteleinwerbung vervierzigfacht wurden. Die Tagungen und Publikationen haben Resonanz gefunden, Ringvorlesungen (die erste über Biografieforschung 2006) und der Rundbrief zur internen Kommunikation, der Hochschulpolitische Arbeitskreis und die Kolloquien sowie die gemeinsamen Projekte der Evaluation ganz verschiedener Organisationen und Projekte der Bildungslandschaft haben ein komplexes lebendiges Profil entstehen lassen. Manche Initiativen, so die Tagung 2006 zusammen mit der Akademie von Shanghai, wurden freilich nicht weiterverfolgt.

Und bei aller Skepsis sind die vielen multidisziplinären Diskussionen in die Qualität der wissenschaftlichen Ergebnisse eingegangen und bilden in den Köpfen der beteiligten Wissenschaftler*innen eine kognitive Vernetzung. Möge man sich auch in Zukunft nicht in dieser Vernetzung verstricken.

 

Literatur

Hardil, Stefan: Grußwort. In: Franz Hamburger, Stefan Hradil, Uwe Schmidt (Hrsg.) Steuerungswissen im Bildungssystem. Mainzer Beiträge zur Hochschulentwicklung, Bd. 10 Hg.: Zentrum für Qualitätssicherung und -entwicklung (ZQ). Mainz 2006 ,  S. 6-7.

Schmidt, Uwe: Vorwort. In: Franz Hamburger, Stefan Hradil, Uwe Schmidt (Hrsg.) Steuerungswissen im Bildungssystem. Mainzer Beiträge zur Hochschulentwicklung, Bd. 10 Hg.: Zentrum für Qualitätssicherung und -entwicklung (ZQ). Mainz 2006, S.1 -4 (den Autoren Franz Hamburger, Stefan Hradil, Uwe Schmidt zugeschrieben).

Hamburger, Franz/Bechberger-Derscheid, Frieder: Bildungs- und Wissenschaftsstandort Rheinland-Pfalz. In: Ullrich Sarcinelli u.a. (Hrsg.): Politik in Rheinland-Pfalz. Gesellschaft, Staat und Demokratie. Wiesbaden 2010, S. 471-496.

 

 

 

 

 

Thesen zur Migration und ihrem Kontext.

(30.7.2018, Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz e.V.)

  1. Die langsame Zunahme von Migration und Flucht in der Welt verweist auf eine Krise durch Verarmung und Bereicherung. Zugleich bleiben lokale Kriege nicht mehr lokal, sondern haben globale Bewegungen zur Folge. Die Durchsetzung eines digitalen Kommunikationsmonopols ist Akt der Bereicherung und der Machtkonzentration. Die Ströme der Informationen bahnen den Weg.
  2. The slow increase of the worldwide migration indicates a crises on grounds of impoverishment and enrichment. At the same time local wars don´t remain local but evolve into global movements. The implementation of a monopole of digital communication points on this enrichment and concentration of power. The distinct flow of information enable this dynamic.

                                                                                                            

  1. Die Dynamik der neoliberalen Modernisierung der Welt erhöht die Bewegung von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Menschen. Die epochale Zunahme des Volumens des Welthandels hat neuerdings einen Knick; deshalb wird die ökonomische Konkurrenz der Blöcke schärfer. Im US-Zentrum der Weltherrschaft gibt es einen Gegensatz zwischen Herrschaft durch Geld oder Imperium durch Bomben.

The dynamic of neoliberal global modernization increases the movement of goods, capital, services and people. Lately, the epochal increase in global trade seems to decelarate; in turn this aggravates the economic competition of the ,blocks’. In the middle of the US world domination you find a contradiction between economic power and the empire of bombs.  

 

  1. Die epochale demokratische Verteilung des Reichtums im 20. Jahrhundert ist beendet. In Europa und Nordamerika steht die Verteilung jetzt am Ende des 19.Jahrhunderts und entwickelt sich rückwärts (Piketty). Holdings entwickeln sich zu Oligopolen und haben die Macht zu entscheiden. Die Folge ist eine Feudalstruktur; seit den 1990er Jahren wird eine 20:80-Gesellschaft prognostiziert.

The democratic distribution of wealth of the 20.century has come to an end. In Europe and North America the distribution resembles the situation of the late 19th century as it develops backwards (Piketty). Holdings become oligopolies and have the power to decide. Feudalism is the consequence and since the years 1990 a 20:80 societal division is predicted. 

 

  1. Gleichzeitig aber entwickelt sich ein ökologisches Bewusstsein, das an der langfristigen Funktionsfähigkeit der Welt für den Menschen zweifelt. Die Funktionsfähigkeit wird auf jeden Fall sehr teuer. Dass unsere Lebensweise die Ursache dafür ist, ist uns bewusst. Sie wird mit Schuldgefühlen oder mit strategischen Profitinteressen fortgesetzt. Die Politik erweist sich dem denkenden Menschen als Heuchelei.

At the same time, an ecological consciousness is on the rise that questions the functionality of the world for mankind. This functionality will surely be very expensive. We know that this is caused by our way of life. Nevertheless it is continued acoompanied by a sense of guilt and profitmaking interest. Politics seem to be hypocrites in the eye of the in intellectual man.   

  1. Die westlichen Gesellschaften spüren genau ihren Anteil an Bereicherung, Zerstörung und Entdemokratisierung. Dieses Gefühl und dieses Wissen erhöhen den Bedarf an verschleiernder Ideologie. Dafür sind die Medien zuständig. Und das Geschwätz über Werte. Zur Verkleisterung hilft am besten ein Feind „da draußen“. Das ist die Funktion der Hetze und des Wirtschaftskriegs gegen Russland.

Western societies are aware of their responsability in terms of enrichment, destruction and  democracies becoming weaker. This awareness increases the need of a masking ideology which is accomplished by media. And the gossip about values. The tool is the identifying of an external enemy. This is the function of agitation and the economic war against Russia.

 

 

  1. Die Dynamiken sind auf die Schnelle nicht aufzuhalten. Deshalb hilft jetzt die Medizin: „Alles Schlechte kommt von draußen“: die Kriminalität, der Terrorismus, die Unverschämtheit, die Schmarotzer … Nur in Malta kann man sich für eine Million € die europäische Staatsbürgerschaft kaufen. In der Nachbarschaft sterben die Anderen. Aus dem Kosovo sollen jetzt die Pflegekräfte kommen, Deutschland hat ja genug Menschen dahin ausgewiesen. Grenzen sind immer relativ, offen und geschlossen gleichzeitig. Es soll kommen, wer vernutzt werden kann.

The dynamics are hard to slow down. According to the slogan ‘all bad results from abroad’ : criminality, terrorism, impertinence, freeloader...Only on Malta you can get a European citizenship for one million EURO. In our geographic  neighbourhood people are dying. Now, the recruitment of nursing staff is requested from Kosovo, in particular since Germany has deported enough persons to that place. Frontiers are always relative, open and closed at the same time. Those who are useful are welcomed.

 

 

  1. Es gibt starke Gegenkräfte, intellektuell. An einem Nachmittag habe ich die Berichte von proAsyl, medico international, der Christlichen Initiative Romero und der Jakobus-Gesellschaft gelesen. Nicht mehr Berichte von Gewerkschaften und Parteien.

There are strong intellectual counterparts. In one afternoon I read the reports of Pro Asyl, medico international, the Christian initiative Romero and the ‘Jakobus Society’. Not those of the trade unions and parties any more.

 

  1. Das Industriezeitalter ist (in einer neuen Schleife) zu Ende. Links ist kein Ort der politischen Selbstdefinition mehr. Es hilft nur die Verfassung, die Menschenrechtserklärung, der Sozial- und Rechtsstaat. Dieses Erbe der Industrialisierung muss erhalten bleiben (auch Piketty).

The age of industrialisation comes to its end on another level. You cannot find a prepective in left positions any more.(oder: To be leftists has been disregarded as a position for political self-definition.) We should count on the constitution, declaration of human rights, social and constitutional state. This heritage of industrualisation should be perpetuated (Piketty).

 

  1. Die gegenwärtige Hysterie in der öffentlichen Thematisierung von Randfragen der Migration täuscht über die Geschichte und die Zukunft der Migration hinweg. Wer Georgien heute als sicheres Herkunftsland erklärt, weiß, was er dort anrichten wird.

The current hysterical debate about minor aspects of migration masks history and future of migration. Someone who declares Georgia as a secure country of origin knows about its risks.

 

  1. Die Systemintegration der Zugewanderten funktioniert nicht schlecht, denn die Wirtschaft braucht Arbeitskräfte. Das Bildungssystem selektiert weiter. Die Sozialintegration ist so halbe-halbe. Die Menschen schwanken halt zwischen Liebe und Hass.

The process of integration works relatively good because persons are requested by the economy. The education system continuesits selective mode. Social integration functions so and so. People oscillate between love and hate.

 

 

 

 

Ansprache am 24.8.2019 am Trauerort in Mainz, Kapuzinerstraße

Trauern heißt den Verlust zu akzeptieren, ohne die Liebe für die Toten aufzugeben. Trauern ist das Gegenteil des Aktivismus, mit dem wir unser Leben ausfüllen. Trauern heißt aber auch, die Verantwortung für das Leben zu übernehmen. Das sagt sich leicht – und ist doch ein langsamer und andauernder Prozess. Wer in Trauer um Familienangehörige, Verwandte oder Freunde ist, muss Schmerzen durchstehen und Verzweiflung erleben. Die Erinnerung an einen lieben und geliebten Menschen ist stärker als jeder Trost. Immer wieder fällt der Trauernde in die Tiefe der Wehmut, gerade dann, wenn er nicht an dem Ort trauern kann, an dem der Betrauerte beerdigt ist. Das ist ein Schicksal vieler, die ihre Heimat verlassen mussten.

Bürgerkriege treffen besonders Frauen und Kinder hart. Sie leiden am meisten, dabei ist Flucht für viele Familien der Versuch, dem Leiden der Frauen und Kinder zu entkommen. Aber die Flucht selbst ist ein gefährliches Unterfangen. Das Bild von einem ertrunkenen Kind am Strand in Griechenland hat uns alle erschüttert und lässt uns nicht mehr los. Das ist gut so, denn in diesem Bild ist auch unsere Verantwortung für die Kinder symbolisiert.

Diese Verantwortung beginnt nicht erst, wenn die Flucht eingesetzt hat oder vorläufig abgeschlossen scheint. Wenn man sich intensiver mit den sogenannten Fluchtursachen auseinandersetzt, sieht man, dass ohne Flucht unzählige Menschen, darunter wieder viele Kinder, sterben müssen. Flucht ist dann der Versuch, für die Kinder eine bessere Zukunft zu suchen. Und die Länder, aus denen heute oder in der Vergangenheit viele Menschen geflohen sind, nämlich Venezuela, Syrien, Kuba und Iran, sind einer Blockade durch Sanktionen ausgesetzt, die vor allem die Kinder trifft.

Der algerische Botschafter Idriss Jazairy ist seit 2015 der „Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates zu den Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen hinsichtlich der Menschenrechte der Bevölkerung des betroffenen Landes“. Das ist ein komplizierter Titel, doch der Botschafter kommt zu eindeutigen Erkenntnissen. Die Sanktionen treffen nicht die Regierung und die Reichen eines Landes, sondern immer vor allem die Armen und die, die sich nicht wehren können, nämlich die Kinder. Die Sanktionen gegen Syrien sind eine Form des Wirtschaftskriegs, zumal sie totale Wirtschaftssanktionen sind. Wir wissen heute gesichert, dass die Sanktionen gegen den Irak vor wenigen Jahren den Tod von 500 000 Kindern zur Folge hatten. Eine amerikanische Außenministerin hat das gerechtfertigt mit dem Satz „Wir glauben – es ist den Preis wert“. 500 000 tote Kinder für einen Regierungswechsel, der das Land in neue Bürgerkriege gestürzt hat. Für Syrien gibt es heute nur Schätzungen, wie viele Kinder sterben müssen, weil es keine Medikamente gibt. Wir wissen, dass 1,8 Millionen Kinder nicht zur Schule gehen können, weil die Einfuhr von Baumaterialien für Schulen verhindert wird.

Als Bürger der Europäischen Union sind wir mitverantwortlich für das, was mit Syrien heute geschieht. Die Europäische Union hat gerade die Sanktionen gegen Syrien verlängert, wie zuvor mit der heuchlerischen Begründung, man wolle das diktatorische Regime in Syrien treffen. Dem geht es aber gut. Und man weiß in Europa recht genau, dass die Sanktionen nicht die vorgeblichen Wirkungen haben. Der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats berichtet Tag für Tag in Brüssel und den Hauptstädten der Union über seine Untersuchungen. Er trifft auf taube Ohren.

Der Bamberger Erzbischof Schick hat Syrien und dort vor allem die christlichen Gemeinschaften besucht. Er kommt mit alarmierenden Nachrichten zurück. Weiterhin leiden vor allem die Frauen und Kinder unter dem Krieg und den Kriegsfolgen. Die Versorgung mit Medikamenten ist katastrophal, Kinder sterben, weil sie nicht versorgt werden können. Die Hilfsprojekte der Caritas sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Über die Christen in Syrien sagt der Bischof: „Sie treibt die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder um. Deshalb verlassen sie das Land.“ Keine einzige Zeitung in Deutschland hat den Bericht von Erzbischof Schick aufgegriffen. Seit Jahren verhallen die Hilferufe christlicher Würdenträger hierzulande ungehört. Die Menschen, und dabei gerade die Christen, haben eine Mitschuld am Tod vieler Kinder. Auch deren Tod ist ein Grund, hier zu trauern. Schöpfen wir daraus auch die Verantwortung für das Leben.

 

 

 

Vom Seminarsaal in die Mission – verschlungene Wege zur guten Arbeit. Zur Verabschiedung von Roland Graßhoff als Geschäftsführer des Initiativausschusses für Migrationspolitik in Rheinland-Pfalz am 5. September 2019 in Mainz

 

Der Initiativeausschuss für Migrationspolitik in Rheinland-Pfalz ist ein Unikat. Es gibt nichts Vergleichbares in der Republik. Einen „Initiativausschuss“ findet man bei gründlicher Recherche noch als „Initiativausschuss zur Gründung einer Sozialistischen Partei“ mit einem „Informationsbrief“ aus dem Jahr 1965 mit dem in linken Kreisen üblichen Abmeiern der Auffassungen aller anderen Sozialisten oder Linken. Oder einen „Initiativausschuß für eine revolutionäre Jugendorganisation“ von 1968 mit schönen Bildern von der „Revolte“. Wenn man weiter zurück geht findet man einen Bericht über die Gründung eines Initiativausschusses zur Freien Deutschen Bewegung durch die Arbeitsgemeinschaft „Probleme der Einheit der Deutsche Emigration“ 1943 in England – gegen den Willen des Exil-SPD-Vorstands, denn in jenem Initiativausschuss gab es angeblich eine Mehrheit der KPD. Auch später hält sich der Name. So hat 1972 das Vietnam-Komitee-Initiativausschuss ein Vietnam-Info Nr. 5 herausgegeben. In diese bunte Tradition lässt sich dann auch der „Eidgenössische Initiativausschuss gegen den Absinth“ mit seinen Schriften in den Jahren 1907 bis 1909 einordnen. Und die „Programmatische Erklärung des Initiativausschusses zur Gründung einer Sozialistischen Partei“ (ca. 1954) kann man als Buch antiquarisch kaufen.

Nun, der „Ini“, von dem hier die Rede ist, hat vielleicht noch etwas von dem Geist jener Jahre aufgenommen, aber er ist zu einer professionell arbeitenden Organisation geworden, die großen Anteil daran hat, dass in Rheinland-Pfalz jenseits einiger Ausländerbehörden eine passable Arbeit im „Migrationsbereich“ geleistet wird. Er gehört zu den zeitgleich entwickelten Organisationen der Ausländerarbeit wie beispielsweise der „Initiativausschuß ausländische Mitbürger in Hessen“, von dem man im Netz noch ein Interview mit Detlef Lüderwaldt und Herbert Leuninger vom Dezember 1974 findet. Die 1970er Jahre waren eine starke Zeit der Mobilisierung von Selbst- und Fremdhilfe in der Ausländerarbeit, von Aktivitäten gegen „Ausländerfeindlichkeit“ und Rassismus und für Integrationspolitik.

Der „Initiativausschuss für eine Ausländerbeirat der Stadt Mainz“ hatte Ende der 1970er Jahre sein Ziel mit einem Stadtratsbeschluss erreicht. Die Initiatoren aber wollten sich damit nicht zufrieden geben und weiteten das Handlungsfeld des Initiativausschusses auf das ganze Land aus. Jetzt war die Gründung eines „Ausländerbeirats für das Land“ das Ziel, das mit der „Arbeitsgemeinschaft der Beiräte für Migration und Integration in Rheinland-Pfalz“ später auch erreicht wurde. Aber die Tätigkeit eines selbständigen Initiativausschusses, auch wenn die Vorläufigkeit dieser Bezeichnung längst überholt war, hatte sich als weiterhin notwendig erwiesen. Dies lag an der Arbeit von Roland Graßhoff.

Den Übergang zwischen der Initiative für einen Beirat der Stadt zu der für einen Beirat des Landes hatte der evangelische Pfarrer Werner Petri organisiert. Mit seinem Büro in der Gossner-Mission, einer ehrwürdigen Einrichtung zur Arbeiterpastoral, schuf er die ersten organisatorischen Voraussetzungen für eine verstetigte Tätigkeit. Politisch aktive Personen der Migranten wie Miguel Vicente und die Verantwortlichen von Verbänden wie Dr. Günter Hartmann (Caritasverband) oder engagierte Einzelpersonen wie Prof. Otto Filsinger begleiteten diese Aufbauarbeit. Doch blieb dies eine Aktivität von kompetenten Amateuren. Die Professionalisierung wurde erst mit Roland Graßhoff erreicht.

Er begann seine Tätigkeit für den Initiativausschuss nicht nur unter provisorischen arbeitsrechtlichen Bedingungen, sondern vor allem unter räumlichen Besonderheiten. Denn in der Gossner-Mission gab es keinen Arbeitsraum und so wurde in der benachbarten Universität eine Bleibe gesucht. Weil die Arbeitsräume rar waren, wurde kurzerhand ein ganzer Seminarraum umgewidmet. Roland saß dann mit vielen Tischen und Stühlen zusammen in einem großen Raum und hat sich dort eine Arbeitsecke eingerichtet. Ein Paravent und ein altes Bücherregal schützten ihn vor den gelegentlich eindringenden Scharen von Studierenden. Ein paar Blätter Papier, ein Schreibgerät und ein Radiergummi waren die Instrumente der Arbeit.

Das konnte so nicht bleiben, und so haben die eigenen und die Unterstützerbemühungen dann doch dazu geführt, dass in der Gossner-Mission ein Arbeitsraum verfügbar wurde. Dieses Zentrum der Evangelischen Kirche, in der Mitte des 19. Jahrhunderts als "Evangelischer Missionsverein zur Ausbreitung des Christentums unter den Eingeborenen der Heidenländer" gegründet, wird heute unter dem Titel „Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau“ geführt.

Dieser Titel, nämlich die Akzentuierung auf gesellschaftliche Verantwortung, könnte auch die nun langjährige Tätigkeit von Dir, Roland, beschreiben. Vom „Seminarraum“ ist diese Tätigkeit auch geprägt, denn Du hast in unzähligen Aus-, Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen die Grundzüge des Ausländer- und Flüchtlingsrecht ebenso wie die aktuellen Entwicklungen (diese immer mit einer kritischen Einschätzung) dargestellt und so grundlegende Bildungsarbeit geleistet. Und von der „Mission“ ist noch etwas im Namen „Initiativausschuss“ zu spüren, denn unverbindliche Erläuterungen waren bei Dir nicht zu haben, sondern begründete Überzeugungen, die sich unbedingt an den Menschenrechten orientieren. Und für diese trittst Du stets mit klarer Rede ein.

Alle diese Elemente flossen zusammen in einer engagierten Beratungsarbeit, in der Organisation und Kommunikation einer menschenfreundlichen Politik für Minderheiten und Benachteiligte sowie einer steten politischen Arbeit. Diese Professionalität ist das Besondere an Deiner Arbeit. Und es ist Professionalität im ursprünglichen und anspruchsvollen Sinne, nicht in der Form technologisch sklerotisierter Routinen beispielsweise der modernen Medizin, sondern als engagierte, ethisch verpflichtete und reflektierte Anstrengung in verbindlicher Beziehung und im Interesse des Anderen.

In Zeiten wie diesen ist eine Person besonders wichtig, die eine klare Orientierung an den Menschenrechten hat, die damit einem inneren Kompass folgt, die sich nicht entmutigen lässt, die Parteilichkeit mit hoher Fachlichkeit verbindet. So hast Du gearbeitet. Du hast Menschen motiviert und ermutigt, Du hast Ihnen das juristische Handwerkszeug vermittelt, damit sie sich kompetent für Flüchtlinge und Ausländer einsetzen können.

 Du hast Dich mit Vertretern von Verwaltungen, vor allem den Ausländerämtern der Städte und Landkreise, herumschlagen müssen und vielfach gegen sie Position bezogen. Du hast aber auch diejenigen aktiv unterstützen können, die ihr Ermessen im Interesse einer demokratischen Integrationspolitik gebrauchen wollten. Und deren Entscheidungen haben das konkrete Lebensschicksal von Personen beeinflusst. Bei allen hast Du Respekt erfahren. Deine Kompetenz und Konsequenz haben Dir Achtung auch der Gegner eingebracht.

Vor allem aber ist Deine Arbeit nachhaltig – das oft missbrauchte Wort wird hier einmal zu Recht verwendet. Denn in den Handlungsroutinen vieler Menschen in Rheinland-Pfalz haben Deine Beratungen Wirkung gezeigt und sind weiter wirksam. Deine Seminare und Bildungsveranstaltungen, Deine Informationen und Kommentare haben das Wissen über eine menschenfreundliche Integrationsarbeit strukturiert. Und dieses Wissen wird trotz aller migrations- und asylpolitischer Eiszeit nicht vergehen.

Am 25. August 1992 hast Du eine Presseerklärung des „Initiativausschuß Ausländische Mitbürger in Rheinland-Pfalz“ „angesichts der rassistischen Angriffe auf Asylsuchende in Rostock“ unterschrieben, in der es heißt: „Der Initiativausschuß kritisiert das völlige Versagen der Verantwortlichen in der Flüchtlingspolitik. Die Diskussion um die Änderung von Art. 16 GG sei eine Scheindebatte, durch die sich an der Tatsache der Zuwanderung von Zuflucht suchenden Menschen nichts ändere.“

Heute könnten wir nichts anderes schreiben. Aber dass wir an unserem Engagement für die Menschen (in der Presseerklärung wird auch an die Würde des Menschen in unserer Verfassung erinnert) festhalten, das ist das Entscheidende. Würden wir nämlich unser Handeln an unseren Niederlagen orientieren, dann würden wir selbst den Anspruch auf Würde verlieren – für uns und unsere Gesellschaft. Deshalb ist Deine Arbeit so wichtig – bis heute; und sie ist Motivation für viele, in diesem Geiste weiterzuarbeiten. Danke, Roland!

 

 

Freiwilliges Engagement für geflüchtete Menschen.

Verschriftete Fassung eines Referats bei Eröffnung der Ausstellung „Miteinander für Integration – Das Ehrenamtsbündnis für Flüchtlingsarbeit stellt sich vor“ am 11. September 2020 im Außenbereich des „Haus des Erinnerns - für Demokratie und Akzeptanz“, Mainz.

Methodische Notiz

Meinen „Input“ zur Ausstellung stütze ich auf einige Studien, die in den letzten Jahren zum Umfang des bürgerschaftlichen Engagements durchgeführt wurden, auf Berichte über bürgerschaftliches Engagement im Bereich des Engagements für geflüchtete Menschen und auf Untersuchungen über die Wirksamkeit von Hilfen zur Integration. Über eigene praktische Erfahrungen verfüge ich durch die Beteiligung an MentoringMainz im Kinderschutzbund Mainz und bei der Ökumenischen Flüchtlingshilfe Oberstadt. Wichtige Einsichten konnten beim Mainzer Vernetzungstreffen im Februar 2018 gewonnen werden.

Begriffliches

Das Ehrenamt ist ein nützlich Ding. Thementage in den Medien und in der Politik, Preisausschreiben und Prädikate überall, Lobeshymnen und social responsibility – wie es scheint, wird der ganze Zusammenhalt der Gesellschaft an ihm festgemacht. Da erinnert man sich aber auch an das Wort von Jan Philipp Reemtsma: „Bei Worten, hat ein kluger Mann einmal gesagt, tut man gut, alle Übergrößen zu vermeiden, und man sollte rhetorisch keine Krisen heraufbeschwören, nur um wie ein Kämpfer dazustehen.“

Das ist richtig – denn das Ehrenamt steht auch für System- und Staatsversagen. Während in der christlichen Tradition der großen Orden von den Maltesern bis zu den Johannitern noch Hilfe und militärische Verteidigung der Kirche in einer Hand lagen und dem Adel später honorige Betätigung erlaubten, wurde es in der Preußischen Städteordnung von 1808 kommunalisiert, weil für die Breite der unteren Aufgaben in den Gemeinden kein Geld mehr zur Verfügung stand. Das galt nicht nur für politische Funktionen, sondern auch für die Armenfürsorge, im Elberfelder System beispielsweise. Auch in der kirchlichen Wohltätigkeit lebte das Ehrenamt weiter – bis heute. Die Frauenbewegung am Ende das 19. Jahrhunderts hat dies verweltlicht und die Sozialen Berufe zunächst einmal ehrenamtlich konzipiert.

Das Bürgerschaftliche Engagement ist gewissermaßen zum Überbegriff geworden. Mit ihm bezeichnet man die vielfältigen Formen des freiwilligen, nicht auf einen finanziellen Vorteil gerichteten Handelns des Bürgers, das dem Gemeinwohl dienen soll und gemeinsame Ziele der Gesellschaft, der Zivilgesellschaft heißt es heute, erreichen hilft. Diesem Engagement steht das hoheitliche Handeln des Staates und der Verwaltung, ebenso das auf den eigenen Gewinn zielende Markthandeln, gegenüber.

Unter diesem Überbegriff leistet das Ehrenamt im engeren Sinne nach wie vor Wesentliches für das Gemeinwohl. Vom Wahlhelfer bis zur Freiwilligen Feuerwehr, vom Ortsbürgermeister bis zum Gemeinderat, vom Schöffen bis zum ehrenamtlichen Richter, von der Mitarbeitervertretung bis zum Betriebsrat, vom Jugendhilfeausschuss bis zum Anstaltsbeirat, vom Kirchenvertreter bis zum Pfarrgemeinderat – eine vollständige Aufzählung ist kaum möglich. Die Bedeutung dieses Ehrenamts kann man am besten am Beispiel der Freiwilligen Feuerwehr zeigen: Etwa 70% der Bevölkerung leben in Deutschland in Regionen und Kommunen, die von den „Freiwilligen“ betreut werden. Mit über einer Million Mitgliedern ist dieses Ehrenamt unüberschaubar für die Existenz der Gesellschaft notwendig. Und dabei ist sogar eine Verpflichtung oder Geldleistung im Not- oder Verweigerungsfall möglich. Ein solches Ehrenamt ist definiert, häufig gesetzlich normiert, an Weisungen gebunden und damit der individuellen Willkür bei der Ausübung entzogen. Aber es sichert das Gemeinwohl.

Seine Bedeutung kann man auch daran ablesen, dass es in der Gemeindeordnung von Rheinland-Pfalz (§18) geregelt wird: „Die Bürger sind berechtigt und verpflichtet, ein Ehrenamt für die Gemeinde zu übernehmen; die Verpflichtung gilt nicht …“ und es folgen dann logischerweise die Wahlämter in der Gemeinde.

Anders verhält es sich mit dem freiwilligen bürgerschaftlichen Engagement, das sich als selbstbestimmtes, selbstorganisiertes Engagement herausgebildet hat. Es trägt heute die Ansprüche der Initiativ- und Selbsthilfebewegung im Anschluss an die Studentenbewegung mit sich und versteht sich meistens auch als ein Akt der politischen Partizipation und des Protestes gegen Staatsversagen und Bürokratieenge. Während die Verwaltungen als „eiserne Gehäuse“ (Max Weber) der modernen Gesellschaft die Leistungen des Sozialstaats abarbeiten, aber nicht darüber hinaus tätig werden müssen, und, im Falle der geflüchteten Menschen, der nationale Staat die ausländerrechtliche Disziplinierung übernimmt, bezieht sich das Engagement auf alles Menschliche zwischen diesen Fronten – und da gibt es genug Raum für unterstützende Tätigkeiten. Das ist dann auch das Metier der helfenden Berufe – eine erste Konfliktlinie wird sichtbar.

 

Mengenmäßiges

Der Umfang des freiwilligen Engagements ist beachtlich. Knapp 44% der Bevölkerung im Alter ab 14 Jahre sind freiwillig engagiert. Entgegen dem verbreiteten sozialkulturkritischen Bild hat dieses Engagements kontinuierlich zugenommen, von 1985 beispielsweise mit knapp 27% auf 30% im Jahr 2007. Über einen Anteil von 34% ist es dann auf die knapp 44% angestiegen. Und auch diese Daten sind ein paar Jahre alt. Das freiwillige Engagement verteilt sich nicht gleichmäßig über die Bevölkerungsgruppen, vielmehr engagieren sich Männer etwas häufiger als Frauen, die mittleren Altersgruppen zwischen 15 und 50 Jahren sind am stärksten engagiert, ab dem Alter von 65 Jahren nimmt das Engagement deutlich ab.

Rheinland-Pfalz war einmal, despektierlich formuliert, das Land der Reben und Rüben. Heute ist es u.a. das Land in Deutschland mit dem höchsten Anteil an Engagierten, nämlich 48,3%. Das heißt, dass sich 1,7 Millionen Menschen im Land engagieren. Dabei ist „Engagement“ wie überall etwas Unterschiedliches. Von der Mitgliedschaft als Karteileiche mit Beitragsleistung, immerhin, in einer Organisation bis hin zu täglicher Aktivität mit hohem Aufwand reicht das Spektrum.

Auch die Bereiche des Engagements sind verschieden: der Bereich „Sport und Bewegung“ bindet die meisten Menschen (ca. 16%), dann folgen „Schule und Kita“ mit 9% ebenso wie „Kultur und Musik“ mit 9%. Soziales und Integration folgen danach.

Eine besondere Frage ist die nach dem Freiwilligen Engagement von Menschen mit „Migrationshintergrund jeglicher Art“. Auch wenn diese Kategorie nur statistischen Wert hat bzw. dazu dient, an der Besonderung der Nicht-Eingeborenen festzuhalten, und lebensweltlich sich ausdifferenziert hat, so wird in Studien immer wieder festgehalten, dass bei Menschen dieser Kategorie ehrenamtliches und freiwilliges Engagement weniger ausgeprägt sei. Dieses Resultat ist typisches Produkt eines verengten Blicks der Forschung. Der Übergang von der selbstverständlichen Hilfe im Nachbarschafts- und Verwandtschaftsverhältnis zur organisierten Hilfe im Ehrenamt oder in der Freiwilligenorganisation ist ein Merkmal von Modernisierung. In vielen Fällen wird dasselbe getan, aber anders verstanden. Eingewanderte befinden sich in einem solchen Prozess der Modernisierung (bekanntes Beispiel ist die Verringerung der Kinderzahl in den Familien) und helfen sich und anderen, auch den „Landsleuten“, und sind, erstaunliches Resultat einer frühen Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, bereit, ihr neues Heimatland auch gegen den Angriff eines muslimischen Staates (welche blöde Frage ist das gewesen!) zu verteidigen. Die aufnehmende Gesellschaft muss hier vor allem ihren Blick auf das engagierte Handeln in verschiedenen Kontexten verfeinern.

 

Engagement für Geflüchtete

Alle Aussagen über das Engagement für Geflüchtete sind zu differenzieren nach dem, was jeweils gemeint ist. Es gibt ein gelegentliches Tätigwerden auf bestimmte Anlässe hin und ein tägliches Sich-kümmern um Personen, Familien, Gruppen oder Situationen. Täglich ein Begegnungscafé offen zu halten ist etwas anderes als eine gelegentliche Begleitung zur Ausländerbehörde. Beides ist wichtig. Auch vom Umfang her gibt es große Unterschiede: manche sind an zwei Stunden in der Woche mit Hilfen bei den Hausaufgaben aktiv, andere verbringen viele Wochenstunden bei der Nachhilfe oder bei der Begleitung der Mitglieder einer größeren Familie. Beides ist wichtig. Ein Teil des Engagements bezieht sich auf spezifische Problemlagen, beispielsweise Rechtsfragen, ein anderer Teil, mit einem deutlich höheren Grad an persönlicher Betroffenheit, ist universalistisch auf alle Fragen der migrantischen Lebenswelt orientiert. Beides ist wichtig. Viele Formen des Engagements entwickeln sich in einer engen persönlichen Berührung, anderen Formen finden in der Tätigkeit für Organisationen, die helfen, ihren guten Zweck. Beides ist wichtig. Und schließlich ist zu beobachten, dass viele Unterstützer*innen ihre bisherige Lebensführung weitgehend beibehalten, während andere im Engagement und in der Hilfe für andere einen (neuen) Lebensinhalt gefunden haben. Beides ist wichtig und erfordert unterschiedliche Begleitung.

Der Wandel des Engagements in der Hilfe für Geflüchtete ist nicht zu übersehen. Im September 2015 begann eine große Woge der spontanen Hilfe für die mittellos ins Land kommenden Flüchtlinge, deren Schicksal man über die Medien hautnah beobachten konnte und deren Elend unübersehbar war. Spontane Hilfe in einer Atmosphäre des Willkommens und des freundlichen Begrüßens dominierte und begeisterte die Helfenden selbst. Kinderzimmer und Kleiderschränke wurden geräumt, Personen begrüßt und begleitet, die Aktivität einer überraschten Verwaltung wurde öffentlich motiviert. Diese Woge flachte langsam ab, denn die Spontaneität kann nicht auf Dauer gestellt werden, die Bedürfnisse der Geflüchteten haben sich differenziert, die Tätigkeit des Staates und der Wohlfahrtsorganisationen hat viele Anfangsprobleme gelöst.

Dennoch entstehen auch heute immer wieder Situationen, die spontane Aktivität, Hilfsbereitschaft und politisches Hilfeverlangen an den Staat motivieren. Der politische Protest gegen die Untätigkeit für Flüchtlinge in den elenden Flüchtlingslagern Griechenlands sind auch eine adäquate Reaktion der Hilfe und Unterstützung. Neu ankommende Einzelpersonen und Familien brauchen wieder das Nötigste. In den Gemeinschaftsunterkünften gibt es immer wieder und immer wieder aufs Neue menschliches Leid, Konflikte, Problemlagen und Defizite, die das Eingreifen der Freiwilligen erfordern. Alltagsbegleitung und Unterstützung beim Behördengang werden gebraucht.

Dennoch gibt es jetzt auch andere Formen und Themen: Der Zugang zur Arbeit, die Wohnungssuche und die Begleitung beim Einzug in eine eigene Wohnung, die Überwindung der Hürden zu guter Bildung – das sind jetzt die Dauerthemen, die auch organisiertes Helfen für eine andauernde Integration brauchen. Die Bedürfnisse der Geflüchteten und die Problemstellen der sozialstaatlichen Daseinsvorsorge ebenso wie der nationalstaatlichen Repression markieren die Leitlinie für Hilfe. Dazu bedarf es, da auch die Wohlfahrtsorganisationen mit der vom Staat und den Kommunen gewährten finanziellen Leistungen nur einen Teil der Probleme bewältigen können, neuer selbst organisierter Hilfsorganisationen, die von der kurzfristigen Orientierung abgelöst für einen längeren Zeitraum verlässliche Unterstützung bei Bildung, Ausbildung, Begegnung und Aktivierung gewährleisten.

Gerade die heute in den Vordergrund gerückte Unterstützung beim freiwilligen Engagement und Ehrenamt der Geflüchteten selbst braucht solche Organisationsformen. Das neo-korporatistische System befasst sich mit solchen Aufgaben zu sehr im eigenen Interesse, als dass man sich darauf verlassen könnte. Die Form des freiwilligen, in diesem Fall nicht nur selbstbestimmten, sondern auch demokratisch unabhängigen Engagements ist geeignet, die moderne Beteiligung der Zugewanderten zu fördern und zu aktivieren, weil sie ein gutes Beispiel beobachten können und konkret erfahren. Die sogenannten Selbstorganisationen entstehen in solchen Milieus und verwandeln die gelegentlich betuliche Versorgung in demokratische Selbsthilfe.

Konkretes Beispiel für eine solche Ausrichtung ist das „Interkulturelle Bildungs- und Begegnungszentrum Oberstadt“ (IBBO) der ÖFO e.V., in dem sich eine ganze Reihe von Personen, denen geholfen wurde, jetzt selbst anderen helfen, während andere sich als Gruppe zusammenfinden. Aber das ist nur ein Beispiel – die Fülle der konkreten Aktivierungsformen hat sich beim Vernetzungstreffen im Rahmen des Mainzer Flüchtlingsrats im Februar 2018 gezeigt und wird heute (das ist der Tag des Referats zur Eröffnung einer Ausstellung) überzeugend deutlich.

Fasst man – erneut nur ein Beispiel – die Erfahrungen bei MentoringMainz zusammen, so zeigen sich viele Möglichkeiten und Anforderungen. Sozial-emotionale Begleitung mit Gesprächen über Gott bzw. Allah und die Welt, Alltagsvermittlung von der Ausbildungsbörse bis zum Sportclub, kulturelle Sozialisation durch gemeinsame Teilnahme an Musikveranstaltungen, Erweiterung der Handlungskompetenz durch Vermittlung eines Schwimmkurses – alles ist wichtig. Und schließlich materielle Unterstützung bei fehlenden Fahrkarten, Laptops, Büchern und Einladungen. Dabei zeigen sich auch Erfolge: Vermittlung von Ausbildungsplatz und Wohnung, Schulerfolg und Abschlüsse, psychische Stabilisierung und Stärkung der Handlungsfähigkeit im Kontakt mit Polizei und Behörden. Vieles gelingt. Aber nicht alles. Manche Verzweiflung an der Mühe der langen Anstrengung, Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung zur Flucht, Enttäuschung über das Ausbleiben der Segnungen des „gelobten Landes“ – diese Situationen bringen Helfende an ihre Grenzen ebenso wie die jungen Flüchtlinge selbst.

 

Zusammenhänge

Die Gründe und Motive, die das freiwillige Engagement hervorbringen, sind im Allgemeinen mehrfach untersucht. In der Flüchtlingsarbeit ist das seltener geschehen. Die Untersuchung von Almut Zwengel hat etwas Licht ins Dunkel gebracht, obwohl sie nur eine kleine Untersuchungsgruppe erreicht hat. Die Erwartungen von Erfolg, Dankbarkeit und Anerkennung sind Motivkräfte, Freude und Respekt sind die Rahmungen der praktischen Tätigkeit. Bei den langfristig Engagierten steht eher die Dankbarkeit im Vordergrund, bei unklarer Dauer des Engagements der Erfolg.

In der noch nicht veröffentlichten Arbeit des ism werden die bei einer Befragung genannten Stichworte in die folgende Reihung gebracht: 1. Sinnvolles tun; 2. Integration fördern; 3. helfen; 4. humanitäre Aktivität; 5.Teilhabe an der Gesellschaft; 6. Freude haben; 7. Kulturen kennenlernen; 8. Politisches Zeichen setzen. Eigenes Bedürfnis und gesellschaftliche Verantwortung verschmelzen zu einer sinnhaften Einheit. In dieser Kombination von Motiven und Möglichkeiten dürfte der wichtigste Unterschied zu beruflichem Handeln liegen.

Eine andere Ordnung der Beweggründe kann so aussehen: Erfolg im Sinne der Veränderung der Menschen, für die man sich engagiert, und der Verhältnisse, insbesondere der politischen Verhältnisse im Sinne einer tatsächlich humanitär orientierten Gesellschaft, ist ein wichtiges Handlungsziel. Dankbarkeit wird erwartet als Resonanz im Sinne einer freiwilligen Zustimmung zu den gemeinsamen Aktivitäten und nicht als Unterwerfung unter den handlungsmächtigen Engagierten. Anerkennung durch die Gesellschaft ist ebenfalls ein hohes Gut, das nicht mit Einvernahme und Instrumentalisierung für politische Zwecke verbunden sein soll, aber sich durch Förderung konkretisiert. Und Freiheit als Selbstbestimmung des gewählten Handelns einschließlich seiner Begrenzung ist im Selbstbild der Engagierten ein spezifisch demokratisches Element.

Belastungen und Begrenzungen sind natürlich gerade in der Flüchtlingsarbeit ein wichtiges Thema. Bei zwei Drittel der vom ism Befragten sind bürokratische Barrieren und der verwaltungsmäßige Aufwand die wichtigste Belastung: Anträge zu schreiben, zu begründen und die Anforderungen zu recherchieren, Berichte zu erstellen, Ausgaben im Einzelnen nachzuweisen und die Förderkriterien bis in Einzelheiten hinein, die oft für andere Zusammenhänge gelten, zu erfüllen – belastet. „Mainz hilft sofort“ war während der Corona-Krise eine lobenswerte Ausnahme.

Emotionale Belastung ist eine andere Form, die mit dem Engagement verbunden ist. Veränderungen geschehen nur im Schneckentempo; es gibt die Erfahrung, dass man sich auch emotional verausgabt ohne immer die Resonanz zu spüren, und der Helfende ist mit dem Erleben von schwierigen Seiten beim Gegenüber konfrontiert. Dies ist bei ca. einem Viertel der Befragten zu hören, ebenso umfangreich ist das Vorhandensein von Frustrationen bei Rückschlägen und Enttäuschungen. Als „harte Grenze“ wird immer wieder das asyl- und ausländerrechtliche Korsett erlebt, das seiner Funktion nach eben nicht nur auf Regelung der Zuwanderung und des Aufenthalts, sondern vor allem auf Verhinderung und Kontrolle angelegt ist.

Eine Besonderheit im sozialen Engagement ist die Frage nach dem Zusammenhang mit der Religion. Religiöse Gemeinschaften sind als Gemeinschaften Organisationen der Hilfe und der wechselseitigen Unterstützung. Geben und Nehmen, soziale Mitverantwortung und intragruppale Solidarität sind in ihnen eine Selbstverständlichkeit. Im freiwilligen Engagement für Geflüchtete spielt die Religion bzw. die Identifikation mit einer religiösen Organisation eine besondere Rolle.

Nach den Daten des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung engagieren sich in der Flüchtlingshilfe vor allem jüngere Menschen, Frauen mehr als Männer – dies im Unterschied zu der Verteilung im allgemeinen Engagement. Das Engagement steigt mit dem Bildungsgrad und die wirtschaftliche Lage wirkt sich aus: wem es gut geht, der engagiert sich eher.

 Entgegen dem allgemeinen Bild vom Islam sind Muslime deutlich stärker offen gegenüber anderen Religionen, deren Wahrheitsgehalt sie eher respektieren als Christen, bei denen dies um 20% weniger der Fall ist. Aber das Missverhältnis zwischen der Wirklichkeit und dem ideologisierten Bild der deutschen Öffentlichkeit von Muslimen ist typisch für einen antimuslimischen Rassismus. Er wird auch nicht korrigiert durch die bald hundert wissenschaftlichen Untersuchungen über Muslime in Deutschland, die sie zu der am besten untersuchten Teilbevölkerung gemacht haben. Und in diesen Untersuchungen gibt es unendlich viele Befunde zur Korrektur des herrschenden Bildes.

Für das allgemeine freiwillige Engagement spielen religiöse Identifikationen eine Rolle: 38% der Christen engagieren sich, 30% der Muslime und 27% der sich als konfessionslos Bezeichnenden. In der Flüchtlingsarbeit verhält es sich anders: Muslime engagieren sich zu 40%, bei den Christen sind es 21% und bei den Konfessionslosen 17%. Auch die konkrete Ausgestaltung der religiösen Zugehörigkeit wirkt: Menschen aus evangelisch-freikirchlichen Gemeinden engagieren sich zu 47%, Orthodoxe zu 26%, bei den katholischen Christen sind es 22% und bei den evangelischen 19%. Offenkundig spielen für diese Verteilung auch andere Faktoren als die Religion eine Rolle, beispielsweise die ethnische und nationale Herkunft der Geflüchteten, die das Engagement von Muslimen und Orthodoxen fördert.

 

Engagement als Konfliktfeld

In der Studie von Andreas Zwick, Thomas Prasser und Andrea Rumpel wird freiwilliges Engagement als Konfliktfeld untersucht. Die engagierte Person steht im Zentrum von Beziehungen zu den Geflüchteten, zu den hauptberuflich Tätigen und zur relevanten Institution, wobei es sich bei allen Strukturmerkmalen um vielfältige Ausprägungen handeln kann. Die Konflikte zwischen Engagierten und Flüchtlingen werden selten genannt, sind aber für die Qualität der Arbeit und für die Selbstkontrolle der Engagierten wichtig.

So gibt es einen Konflikt zwischen Fürsorge und Vereinnahmung, zwischen Autonomie und Abhängigkeit. Manches Handeln der Engagierten kann als übergriffig erlebt werden, anderes als zu wenig sorgend. Manche Erwartung der Unterstützten wird als Unwillen zur Selbstverantwortung gedeutet, anderes als übertriebenes Selbstbewusstsein. Autonomie und aufeinander Bezogensein in einer für beide akzeptierte Balance zu bringen ist ein Kunststück, das aber gelingt.

Interkulturelle Konflikte liegen auf der Hand. Die Deutung von verschiedenen Auffassungen und Handlungen als kulturell bedingt ist in der Ausländerarbeit von Anfang an eine Möglichkeit, denn die vorgängig vorhandene Differenz zwischen den Lebenswelten, die sich noch nicht gekannt oder berührt haben und die jetzt aufeinandertreffen, legt eine solche Erklärung nahe. Dabei geht es auch immer um den beiderseits vorhandenen Ethnozentrismus, nämlich der Überzeugtheit von der Richtigkeit des eigenen Orientierungssystems.

Die Geschlechterverhältnisse und unterschiedliche Auffassungen der Rollen von Mann und Frau sind ja in der aufnehmenden Gesellschaft auch ohne Zuwanderung schon kompliziert genug. Das potenziert sich dann aus zwei Gründen: Einmal gibt es unterschiedliche Traditionen und Praktiken, wie dieses Verhältnis gestaltet wird. Zum anderen geschieht seine Thematisierung in der Regel im Konflikt, das heißt, dass eine Handlung oder ein Argument als verletzend für die eigene Auffassung verstanden wird. Die Verweise auf Geschlechterordnungen folgen dann dem Interesse, die eigene Auffassung zu behaupten und die „fremde“ Auffassung als zumindest unpassend und wertverletzend herabzusetzen.

Die Balancierung von Anerkennung und Erwartungen ist ein weiteres Konfliktfeld. Die Erwartungen geflüchteter Menschen können zu hoch sein, wenn sie vom Engagierten eine jederzeitige Allzuständigkeit und „Hilfe in allen Lebenslagen“ beinhalten. Und Engagierte können, ganz gleichgültig, was sie tun, nur deshalb, weil sie es freiwillig tun, eine respektvolle Anerkennung ihres Handelns erwarten.

Schließlich ist der differenzierte Umgang mit geflüchteten Menschen, also eine unzureichende Gleichbehandlung ein Problem. Denn die Selbstbestimmung des freiwilligen Engagements impliziert auch die Entscheidung, wen man wie unterstützt und wen man nicht unterstützt. Diese Eigenwilligkeit ist für die geflüchteten Menschen nicht leicht zu durchschauen und im Falle einer Ablehnung nicht leicht zu akzeptieren. Andererseits ist die Erwartung der Gleichbehandlung, die auch von der Institution oder von den Hauptamtlichen geäußert werden kann, aus der Perspektive des Engagierten nicht begründet. Gleichbehandlung ist die typische Anforderung an die beruflich Tätigen.

Diese Konflikte machen auch nach der Studie von Zwick u.a. nicht das freiwillige Engagement in dem Sinne aus, dass es sich um dominierende Konflikte handelt. Aber die Aufmerksamkeit auf solche, auch unter der Oberfläche bewusster Wahrnehmung ablaufenden Divergenzen zu richten, wird zur Aufgabe der Begleitung von ehrenamtlichem Engagement. Hinzu kommen die Konflikte zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen, Konflikte in der Gruppe der Ehrenamtlichen und zwischen ihnen und den Institutionen der Kommune, des Staats und der Wohlfahrtsorganisationen.  Aber auch im Verhältnis zum persönlichen, sozialen und öffentlichen Umfeld kann es zu Spannungen und Konflikten kommen, wenn der Respekt vor dem ehrenamtlichen Engagement fehlt oder dieses sein Umfeld, das kann von der Familie bis hin zur Öffentlichkeit reichen, zu sehr beansprucht bzw. seine Interessen vernachlässigt. Ein anderer Konfliktfall entsteht, wenn die Engagierten die Zuständigen mit ihren Forderungen „nerven“. Aber – wie gesagt: der Konflikt ist nicht das Konstituierende.

 

 

Zusammenhänge im Feld

Freiwilliges Engagement ist einerseits frei und selbstbestimmt, andererseits findet es in einem komplex strukturierten Feld statt. Dies wurde schon in der Konfliktanalyse deutlich. Es findet nicht „auf der grünen Wiese“ statt, will aber auch nicht gegängelt werden. Es ist deshalb eine zusätzliche Aufgabe der Engagierten, sich um ihre Vernetzung zu kümmern.  Denn es ist auch interessiert am Zugang zu den Erfahrungen anderer, an der Tätigkeit der Hauptamtlichen in den Wohlfahrtsorganisationen und am Zugang zu den Institutionen, die für die Integration geflüchteter Menschen entscheidend sind: Schulen, Betriebe, Handwerkskammer, Industrie- und Handelskammer, Jobcenter und Agentur für Arbeit, kommunale Verwaltung und, vor allem, die Ausländerbehörde. Diese Verbindungen ergeben sich als Arbeitsbeziehungen nicht von selbst, sondern bedürfen der Aufnahme und Pflege.

Im Falle des MentoringMainz beispielsweise wurden, bevor die Tätigkeit der Mentor*innen beginnen konnte, durch persönliche Gespräche Kooperationsbeziehungen mit dem Jugendamt und den Vormündern für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, mit den Trägern und Mitarbeiter*innen der Wohngruppen aufgenommen. Auch der Informationszusammenhang des lokalen Flüchtlingsrats, des Bundesverbands UMF und der kommunalen Serviceeinrichtung wurde genutzt. Für die weitere Entwicklung und Wirksamkeit des neuen Projekts Mentoring bildeten diese Kontakte ein tragendes Beziehungsnetz.

Andreas Zwick u.a. leiten aus ihren Analysen einige Regeln und Empfehlungen ab, worauf es zum produktiven Umgang mit Konflikten und zur Sicherung von Qualität der freiwilligen Tätigkeit ankommt: 1. Klare Ziele setzen und Wege besprechen wie verhandeln! 2. Grenzen des Möglichen erkennen und kenntlich machen! 3. Interkulturelle Kommunikation mit Flüchtlingen lernen und gestalten! 4. Die Kommunikation mit hauptamtlich Tätigen regeln und gestalten! 5. Die Kommunikation mit Behörden und Institutionen aktiv suchen und annehmen! 6. Kooperationen herstellen und Wettbewerbe mindern! 6. Ehrenamtskoordination ist unabdingbar! 7. Die Kooperation kann sich an demokratischen Regeln orientieren und gegenseitige Wertschätzung erleichtern!  8. Schutz gegen ideologisch motivierte Gewalt und Menschenfeindlichkeit einrichten! 9.Flüchtlingsschutz und Schutz des Ehrenamtes sind angesichts der Angriffe eine unabdingbare Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung der kommunalen Zivilgesellschaft. 10. Auf Reaktionen des persönlichen Umfeldes einstellen! 11. Anerkennung wünschen, aber Erwartungen realistisch halten! 12. Weiterbilden und Weiterbildung einfordern! Koordination und Kooperation erscheinen als systemische Bedingungen einer gelingenden Hilfe für geflüchtete Menschen – nicht nur im Bereich des freiwilligen Engagements.

 

Forderungen und Anforderungen

Dieses Anforderungsbündel erscheint überwältigend und in der Tat haben freiwillig Engagierte ein komplexes Anforderungsfeld zu bearbeiten. Andererseits sind die grundlegenden Anforderungen an sie einfach: Sie sollen über eine reflektierte Lebenserfahrung verfügen, sie sollen eine innere Freiheit zu ihrer eigenen Kultur haben und eine bestimmte Zeit für Aktivitäten zur Verfügung stellen, wobei auch Raum erforderlich ist für spontane Aktionen.

In der Regel brauchen freiwillig Engagierte auch eine Begleitung. Sie brauchen Informationen über die Umstände ihres Tätigkeitsfeldes, Reflexion über die Zusammenhänge der Lebenswelt geflüchteter Menschen und sie brauchen Selbstreflexion als Arbeit am Selbst. Behutsame Moderation aus einem bescheiden bleibenden Erfahrungs- und Informationsvorsprung heraus ist eine effektive Hilfe. Die auch in diesem Feld tätigen „Einzelkämpfer*innen“ leisten sehr viel, aber sie sind gefährdet, wenn ihr Engagement sie auffrisst, wenn es ihnen über den Kopf wächst, wenn sie keine distanzierte Selbstwahrnehmung mehr haben. Vor allem brauchen sie, wie andere engagiert Berufstätige auch, Bereiche in ihrer Lebenswelt, die sie nur erfreuen und ihnen Entspannung gewähren.

Das Ehrenamt und das Engagement stellen auch Anforderungen an Unterstützung. Damit machen viele hier vor Ort gute Erfahrung, ebenso mit den Angeboten des Landes. Es gibt sogar mehr Angebote als wahrgenommen werden können, denn Ehrenamtliche begrenzen sich aus guten Gründen auf einen Teil ihrer Lebenszeit für das Engagement. Vor allem braucht das freiwillige Engagement heute Verteidigung gegen rechtsextreme Angriffe, gegen die Verleumdung seines „Klientels“, gegen Herabsetzung und Verächtlichmachung. Diese Verteidigung ist dann besonders glaubwürdig, wenn sie mit einer inhaltlichen politischen Zustimmung verbunden ist.

In jedem Fall ist die freiwillige Bürgerarbeit, um den allgemeinen Begriff wieder aufzugreifen, gelegentlich wie ein scheues Reh, das Behutsamkeit im Umgang braucht.

Das gilt gerade im Zusammenhang mit der Interkulturellen Woche, die im Zusammenhang mit dem „Kampf“ gegen den Rassismus steht. Es gibt genug Grund für diesen Schwerpunkt, denn die 150 seit der Deutschen Einigung ermordeten Migranten sind nur die Spitze einer Flut von menschenfeindlichen Taten und Untaten. Besonders sorgfältig müssen die Verfassungs- und Staatsorgane mit der Anwendung staatlicher Gewalt umgehen – da scheint noch Luft nach oben bei Polizei und, vor allem, Verfassungsschutz. Was da bisher schon unter den Teppich gekehrt oder in den Schredder gesteckt wurde, darf nicht fortgesetzt werden. Denn am Umgang mit seinem wertvollsten Privileg, dem Gewaltmonopol, darf der Staat nicht schlampen.

Das Wort Kampf wurde zunächst in Anführungszeichen gesetzt. Denn vielfach ist heute eine Welle der moralischen Empörung derer in Gang gekommen, die sich erhaben fühlen über die Untiefen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Problematisch wird es besonders, wenn mit Verboten für bestimmte Worte der Rassismus zum Verschwinden gebracht werden soll – wie wenn „nicht das gesprochene, sondern das gemeinte Wort“ (Otto Wolter) entscheidend wäre.

Wer nicht nur von heute, sondern auch etwas von gestern ist, weiß noch, wie in den 1980er Jahren schon eine heftige Auseinandersetzung mit starkem Engagement der Zivilgesellschaft gegen den laut werdenden Rassismus stattgefunden hat. Schon damals hat sich gezeigt, dass man den Rassismus nicht intentional austreiben kann. Und das gilt erst recht für pädagogische Zusammenhänge. Wenn heute gefordert wird, alle Schüler müssten zwangsweise in Gedenkstätten des Völkermords geführt werden, dann ist lediglich ein neues Niveau des Unverstandes erreicht, nicht des Kampfes. Der Titel des zunächst 1986 erschienenen Textes „Über die Schwierigkeit nicht rassistisch zu sein“ ist auch Aufforderung zum Nachdenken über die eigene Verstrickung in die Gesellschaft, in der man aufgewachsen ist, und deshalb Überheblichkeit unangebracht ist. Das mildert den Kampf gegen Rassismus nicht, macht ihn aber ehrlicher.

Engagement für die geflüchteten Menschen ist in diesem Zusammenhang eine Form einer antirassistischen Praxis – was noch lange keine definitive Aussage über die Orientierungsmuster der Engagierten macht. Da ist Demut angebracht in der Selbststilisierung. Auch geht es um die Differenzierung von Begriffen, Zuschreibungen und Kategorisierungen. Wenn alles, was einem nicht gefällt, mit der „Keule“ des Rassismus erschlagen wird, dann besteht die Gefahr, dass der ausbeuterische Rassismus der Sklavengesellschaft als das Gleiche erscheint wie eine dümmliche Bemerkung.

 

Abschließendes

Die freiwillige Bürgerarbeit ist ein wertvolles Gut. Gelegentlich wird sie zum zentralen Kitt der Gesellschaft erklärt. Doch die Soziologie und die Psychologie erinnern uns daran, dass beim Zusammenhalt zuerst das Geld, dann die Angst und erst an dritter Stelle die Liebe kommt. Dennoch und in diesem Kontext gerade deshalb ist das Engagement für andere, für die, die in ihrer Situation Unterstützung brauchen, der Faktor, der einer Gesellschaft ihr menschliches Antlitz geben kann.

Das Freiwilligenengagement hat äußere Grenzen in der rechtlichen Lage der Adressaten, in den Mängel der Sammelunterkünfte, im Wohnungsmarkt, in bürokratischer Verhärtung und im Rassismus. Es hat auch innere Grenzen, denn es ist eine Last, sich um die Beziehung bemühen zu müssen, auf die korrekten deutschen Zeitabsprachen festgelegt zu sein, kulturelle Differenzen nicht gutheißen, aber respektieren zu sollen, ständig Nähe und Distanz balancieren zu müssen.

Aber es wirkt nachhaltig. In einer ganzen Reihe von Studien wird es nicht nur gelobt und gefordert, sondern es wird auch seine Wirkung gezeigt. In einer von der OECD verantworteten Fallstudie heißt es beispielsweise:  “In response to the scarcity of financial and technical means, local schools also largely resort to assistance from volunteers, such as the Kümmerer. This has proven to be a good practice, since Kümmerer can serve as mediators as they have usually built up individual close relationships with migrant families. Coping with challenges and opportunities in the city’s education system is thus also largely built on individual’s efforts, including staff in schools, Kümmerer and migrants themselves”. (OECD 2018).

Doch nicht nur auf die Effekte kommt es an, sondern auch auf die menschliche Qualität der Erfahrungen, die die Geflüchteten in dieser Gesellschaft machen. Die “identifikative Assimilation”, auf die auch ein ansonsten rationalistisches Konzept der Soziologie Wert legt, ist der entscheidende Weg in eine Gesellschaft des guten Zusammenlebens. Die Erfahrung des freiwilligen Engagements gehört dazu.

 

 

Studien und Dokumente

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) Projektgruppe Zivilengagement (Mareike Alscher, Dietmar Dathe, Eckhard Priller (Projektleitung), Rudolf Speth): Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, Berlin, Juni 2009.Hrg.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit (EFA) in Deutschland 2. Forschungsbericht Ergebnisse einer explorativen Umfrage vom November/Dezember 2015. Eine Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin (Serhat Karakayali und Olaf Kleist), 8. August 2016.

Freiwilliges Engagement in Deutschland Zusammenfassung zentraler Ergebnisse des Vierten Deutschen Freiwilligensurveys; Verfasser: Julia Simonson, Claudia Vogel, Clemens Tesch-Römer. Hg.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Dezember 2016.

 

Aktiv für Flüchtlinge RLP: „Begleitung und Unterstützung für Ehrenamtliche im Flüchtlingsbereich in RLP“; Präsentation bei der Tagung des Ministeriums für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz des Landes Rheinland-Pfalz am 18.12.2019.

Almut Zwengel: Erfolg, Dankbarkeit und Anerkennung. Zur Verstetigung ehrenamtlichen Engagements für Geflüchtete. In: neue praxis 49.Jg., Heft 6, S. 510 – 526.

Anika Metzdorf, Rebecca Schmolke (Hrsg.) WIR GEHT NUR GEMEINSAM. Junge Geflüchtete in den Angeboten der Jugendarbeit – eine Arbeitshilfe für die Praxis. Hg.: Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz gGmbH (ism), Servicestelle junge Geflüchtete und Stiftung Ravensburger Verlag, Mainz März 2020.

Annita Kalpaka, Nora Räthzel, Klaus Weber (Hrsg.): Rassismus. Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Argument Verlag (Hamburg) 2017.

„Ausbildung und Arbeit für Flüchtlinge? – Ohne die Freiwilligen können Sie das vergessen!“ Über bürgerschaftliches Engagement zur Unterstützung der Arbeitsmarktintegration, von Wolfgang Erler, Andrea Prytula, Angela Grotheer, Bertelsmann Stiftung, September 2018: Gütersloh

Bericht der Bundesregierung zu dem Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher gemäß § 42e SGB VIII – Die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland. https://www.bmfsfj.de/blob/jump/148642/uma-bericht-2020-data.pdf

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hrsg.): Forschungsinitiative Integration vor Ort leben. Zwischenergebnisse aus dem Projekt „Integration von Zuwanderern – Herausforderungen für die Stadtentwicklung“. BBSR-Online-Publikation 06/2018, Bonn, März 2018.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Forschungsbericht Nr. 484, Erfolgsfaktoren für die Integration von Flüchtlingen, Juni 2017. Erstellt vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) an der Georg-August-Universität im Juli 2016.

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Referat Innovationen in der beruflichen Bildung (Hg), Bundesinstitut für Berufsbildung, Arbeitsbereich 4.4 „Stärkung der Berufsbildung, Bildungsketten“: Fachtagung „Integration von Geflüchteten und Neuzugewanderten in Ausbildung und Arbeitsmarkt – Ein Zwischenfazit“ am 25. Juli 2019 in Bonn Bad Godesberg. Servicestelle Bildungsketten, August 2019.

Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR-Forschungsbereich) 2020: Zugang per Zufallsprinzip? Neuzugewanderte auf dem Weg in die berufliche Bildung, Berlin.

„Integration von Flüchtlingen in Deutschland: Erste Ergebnisse aus der ReGES-Studie“. Reihe LIfBi Working Papers (Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) Bamberg) (ReGES = Refugees in the German Educational System).

ism – Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V.: Studie zur Situation des Ehrenamts in der Flüchtlingsarbeit in Rheinland-Pfalz (Autorinnen: Johanna Diehl, Joëlle Ernst, Catherine Gotschy, Ulrike Pingel). Bericht an das Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz des Landes Rheinland-Pfalz (Veröffentlichung am 30.10.2020 vorgesehen, dann abrufbar über www.ism-mainz.de)

Jule-Marie Lorenzen: Integration durch Mentoring. Jugendliche am Übergang von Schule in Ausbildung und Studium. Weinheim und Basel 2017: Beltz Juventa.

Junge Geflüchtete auf dem Weg in Ausbildung Ergebnisse der BA/BIBB-Migrationsstudie 2016. 27.03.2018. Autorinnen: Dr. Verena Eberhard, Stephanie Matthes, Julia Gei. https://www.bibb.de/migrationsstudie-2016

Karola Köhling und Marina Ruth unter Mitarbeit von Hawzheen Hamad:  Integration von jugendlichen Geflüchteten.  Das Zusammenwirken von lebens- und arbeitsweltlichen Faktoren. IAQ-Report (Institut Arbeit und Qualifikation) 3/2020.

Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz des Landes Rheinland-Pfalz: Dokumentation der Tagung „Strukturen und Maßnahmen für eine nachhaltige ehrenamtliche Integrationsarbeit“ am 18.Oktober 2019 in Mainz.

Miriam Fritsche, Dagmar Koch-Zadi, Katharina Mild: Junge Geflüchtete beim Übergang ins Erwachsenenleben begleiten. eine Orientierungshilfe für Ehrenamtliche und Fachkräfte. Hrg. vom Kompetenzzentrum Pflegekinder e.V. Berlin, April 2019.

OECD (2018), Working Together for Local Integration of Migrants and Refugees in Altena, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/9789264299320-en

Patricia Heinemann, Elisabeth Kals: Mentoring unbegleiteter Minderjähriger. Ein Manual zur Förderung geflüchteter Kinder und Jugendlicher. Stuttgart 2019: Kohlhammer.

Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung: Engagement für Geflüchtete – eine Sache des Glaubens? Die Rolle der Religion für die Flüchtlingshilfe, von Alexander K. Nagel und Yasemin El-Menouar. Gütersloh: März 2017.

Studie „Potentiale von Geflüchteten anerkennen – Soziale Integration durch Förderung von Bürgerschaftlichem Engagement und Selbstorganisation“. ISIS GmbH – Sozialforschung, Sozialplanung, Politikberatung, Autorinnen: Dr. Karin Stiehr und Nina Stiehr, Frankfurt am Main (in Kooperation mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen in Hessen) Februar 2016.

terre des hommes: Kein Ort für Kinder Zur Lebenssituation von minderjährigen Geflüchteten in Aufnahmeeinrichtungen. Autor*innen: Nerea González Méndez de Vigo, Franziska Schmidt, Tobias Klaus, Lektorat: Klaus Peter Lohest.

Umfrage zu Begegnungsorten / Flüchtlingscafés u. a. in Rheinland-­Pfalz Begegnungsorte in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in RLP Ergebnisse der Onlineumfrage unter Ehrenamtlichen in der Flüchtlingsarbeit in Rheinland-­Pfalz Umfragezeitraum April­ September 2019, erstellt von: Aktiv für Flüchtlinge RLP Begleitung und Unterstützung für Ehrenamtliche im Flüchtlingsbereich in RLP, November 2019.

 

Eigene Vorarbeiten

Ehrenamtliche Mitarbeiter in der Jugendarbeit. Eine empirische Untersuchung zu ihrem Selbstverständnis. Weinheim-Basel 1982. (zusammen mit Christian Beck und anderen).

 

Ehrenamtliche Tätigkeit in Jugendverbänden und Jugendzentren. In: deutsche jugend. Heft 3/1988, S. 126 - 132.

 

Bürgerschaftliches Engagement im sozialen Bereich. In: Thomas Olk und Birger Hartnuß (Hrsg.): Handbuch Bürgerschaftliches Engagement. Weinheim/München 2011, S. 317 – 328.

 

Die langen Wellen des Engagements. In: Migration und Soziale Arbeit 27 (2005). Heft 3, S. 84 – 86.

 

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Texte

 

Der Medizinisch-Industrielle Komplex

Krieg gegen die Kinder

Ein Tag im Dezember

Die vierte Macht unterwirft sich dem Imperium

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Medizinisch-Industrieller Komplex (MedIK): Ein Verwandter des Militärisch-Industriellen Komplexes (MIK) – Franz Hamburger

 

Zu meinem Soziologiestudium (ab 1966) gehörte die Teilnahme an einem Mittelseminar zum Buch „The Power Elite“ (1956) von C. Wright Mills.  Es wurde an der Universität Köln von Erwin K. Scheuch angeboten, der gelegentlich selbst anwesend war, das Seminar, wie an der feudalen Universität üblich, von seinem Mitarbeiter durchführen ließ. Gemäß der Ausrichtung der Scheuch-Schule konzentrierten sich Fragen auf die methodische Erfassung des Positions- versus Zuschreibungsansatzes. Scheuch wandte sich erst später, als er in der Kommunalpolitik nicht sehr erfolgreich war, der Analyse des „Klüngels“, also des lokalen Machtzentrums in Köln, zu.

Mills, der gerne mit dem Motorrad kreuz und quer durch Nordamerika fuhr und dabei eine kreative Methode der empirischen Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit entwickelte, hatte den Einfluss der militärischen Elite auf die demokratische Regierung untersucht und einen Zuwachs an Macht für das Militär festgestellt. Doch nicht nur für die Kräfteverhältnisse in der Demokratie war dieser Zuwachs problematisch, sondern auch für die „Finalisierung“ von Wissenschaft und Technologieentwicklung. Schließlich würde die Macht des Militärs auch die Außenpolitik der USA beherrschen, was sich nicht nur in den Kriegen in Vietnam, Irak und Afghanistan, sondern auch in der gesamten militärisch bestimmten Hegemonialpolitik der USA bestätigte.

Während Mills noch vom „Militär-Establishment“ sprach, hat der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower den Begriff des „militärisch-industriellen Establishments“ in seiner Abschiedsrede verwendet, als er 1961 als Präsident von seinem Amt zurücktrat. Der frühere General hatte die Macht des Komplexes erfahren, sie genutzt und als Präsident einer Universität die Ausbreitung der Krake des MIK erlebt. Er sprach von einer „gigantischen industriellen und militärischen Verteidigungsmaschinerie“, die den demokratischen Prozess gefährde. Eisenhower nahm die Einordnung des MIK in einem konventionellen Schema vor, nach dem die Regierung handlungsmächtig demokratische Einflüsse balanciere und zum Wohl des Ganzen entscheide. Dass das Kapital selbst und mit ihm die Rüstungsindustrie selbst schon an der Macht sei, konnte in diesem Schema nicht erfasst werden.

Die Analyse Eisenhowers wurde sehr bald, wie dies bis heute üblich ist, als Verschwörungstheorie bezeichnet und der Begriff wurde nur gelegentlich noch gebraucht. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich der Militärapparat mitsamt seinen wissenschaftlichen und demagogischen Ressourcen außerhalb der einzelstaatlichen Domänen in der NATO als internationale Organisation positionierte. Die NATO, lange vor dem „Warschauer Pakt“ gegründet und im Kalten Krieg zu einer perfekten Kriegsmaschinerie globalen Ausmaßes ausgebaut, entwickelte schnell eine solche ideologische und strategische Machtstellung, dass die Souveränität der Mitgliedstaaten, sieht man von der der USA ab, ein historisches Anhängels geworden ist. Die heute 30 Mitgliedsstaaten haben sich schrittweise auch der politischen Hegemonie der NATO untergeordnet, die gleichzeitig ein wesentliches Instrument amerikanischer Hegemonialpolitik geworden ist. Der 20-jährige Krieg gegen Afghanistan hat diese Dynamik unübersehbar gezeigt. Die NATO ist zum Militärisch-Industriellen Komplex par excellence geworden.

Im Spannungsfeld von NATO-Unterwerfung und nationaler Selbstständigkeit können die Regierungen, die im NATO-Rat vertreten sind, das Spiel spielen, das sie in der Europäischen Union auch zu spielen gewohnt sind. Mit Verweis auf „Solidarität“ innerhalb der transnationalen „Gemeinschaft“ können sie innenpolitisch schwierige Absichten durchsetzen, mit dem Verweis auf die Verpflichtung gegenüber den eigenen Bürgern können sie ihren Spielraum im bargaining des transnationalen Gremiums etwas erhalten. Das Dilemma innerstaatlicher Kritik muss sich dann immer an dem Vorwurf nationalistischer Eigenbrötelei abarbeiten, ganz gleichgültig, um welche Kritik es sich handelt.

Diese Kritik hechelt auch immer mehr der internationalen Verschränktheit der Rüstungsindustrie hinterher. Sie hat sich in global agierenden Konzernen verfestigt und wird dabei von den verbündeten Staaten als international vernetzte Produktion gefördert. Nationale Anstrengungen sind nicht mehr ausreichend, um die hochtechnologischen Entwicklungs- und Produktionsprozesse zu finanzieren, der Rüstungshandel ist ohnehin grenzenlos möglich. Im Ergebnis der Transnationalisierung haben die Nationalstaaten immer weniger Macht, um Einfluss auf diese Prozesse zu nehmen. Sie können Rüstungsexport-Richtlinien erlassen, wie sie wollen – der tatsächliche Handel verläuft nicht mehr steuerbar.

Nicht nur die wissenschaftlich-technologischen Produktionsprozesse sind der Macht der demokratisch gewählten Regierungen weitgehend entzogen, auch die Meinungsbildung ihrer Bevölkerung. Mit einer eigenen Öffentlichkeitsarbeit kann die NATO ihre militärischen Interessen regierungsunabhängig bekannt machen. Dabei tritt die NATO nicht öffentlich auf, sondern in der Regel durch die von ihr finanzierten Institute für „strategische Studien“ unter dem Mantel wissenschaftlicher Neutralität. Ein Beispiel für solche Abläufe ist die Beschaffung von Drohnen für die deutsche Bundeswehr. Insbesondere die SPD hat eine solche Beschaffung zunächst abgelehnt, stimmte dann der Bestellung von unbewaffneten Drohnen zu und muss am Ende die Aufrüstung mit bewaffneten Drohnen für den Kriegseinsatz befürworten. Zwischen diesen Entscheidungsschritten wirkte nicht nur der Einfluss des Koalitionspartners, sondern auch die Lobbyarbeit der Rüstungskonzerne und die Propaganda der NATO.

Die NATO-Osterweiterung 2004 hat die für Mitteleuropa besonders brisante Einkreisung Russlands vorangetrieben, die mit dem amerikanisch finanzierten Putsch in der Ukraine 2013/14 perfektioniert wurde. Seitdem gehört die Agitation gegen Russland zum täglichen Bestand der medialen und politischen Öffentlichkeit, wesentlich durch sogenannte Analysen der NATO genährt. Denn die NATO ist nicht nur in der Bündelung von militärischer Kraft zu einem neuen Typ des militärischen Komplexes geworden, sondern gerade auch dadurch, dass er eng mit wissenschaftlichen Forschungskapazitäten, der europäischen und amerikanischen Rüstungsindustrie und politischen Denkfabriken, die die software für die Begründung der steten Aufrüstung liefern, verknüpft ist. Die „Bildungsarbeit“ der unzähligen Institutionen um die NATO herum für Politiker und Journalisten fundiert ein „nordatlantisches Weltbild“, das alltäglich aus fast allen Medien der „freien Welt“ herausschaut. Ihre geopolitische Macht hat die NATO insbesondere durch drei „Partnerschaften“: Mittelmeerdialog, Istanbuler Kooperationsinitiative und globale Partnerschaft ausgedehnt und verfestigt. Sie hat damit Einfluss auf allen Kontinenten und in allen Konstellationen außerhalb Russlands und Chinas gewonnen. Ein Indikator sind die Ausgaben in den Militärhaushalten der Staaten.

Die weltweiten Militärausgaben sind im Jahr 2020 weiter gestiegen. Im Pandemie-Jahr 2020 wurden nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts in Stockholm (Sipri) insgesamt 1981 Milliarden US-Dollar (1647 Milliarden Euro) für die Rüstung und weitere militärische Zwecke ausgegeben. Insgesamt gaben die 30 Nato-Staaten im vergangenen Jahr rund 1,1 Billionen US-Dollar (etwa 930 Milliarden Euro) für das Militär aus, davon kamen 785 Milliarden US-Dollar von den USA. Im Vergleich zeigt sich, mit welcher Überrüstung die NATO die Welt beherrscht: Nach Zahlen des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) hat China zuletzt gerade einmal 193,3 und Russland 60,6 Milliarden Dollar für das Militär ausgegeben. Die dem MIK zur Verfügung stehende Finanzmasse ermöglicht nicht nur die Entwicklung und die Produktion konventioneller Militärtechnik, sondern auch die wissenschaftliche Innovation jeweils neuer Generationen der Waffentechnologie. Der Komplex ist also hoch produktiv.

Das Fundament der Wirksamkeit des industriell-wissenschaftlichen Militärkomplexes der NATO ist Angst. Sie zu schüren ist lebensnotwendig – für die NATO und den Komplex, den man nicht mehr als einen einzelnen Komplex in einem großen Gefüge, das vielleicht auch noch demokratisch regiert wird, verstehen kann. Denn die Einheit von Militärorganisationen und Wirtschaft, Rüstungsindustrie und Regierung, in der ja in den NATO-Staaten keine abrüstungspolitische Position mit Einfluss vertreten ist, verbindet Segmente miteinander, die demokratietheoretisch getrennt werden, aber eben nur theoretisch. Denn als Merkmale des MIK werden nicht nur die intensiven Kontakte und Beziehungen zwischen Personengruppen (Militärs, Partei- und Regierungsmitglieder, Wirtschaft und dabei besonders die Rüstungsindustrie) genannt, sondern auch die Lobbyarbeit und Beratungstätigkeit der Rüstungsindustrie und der personelle Austausch zwischen diesen Institutionen. Übergreifend jedoch wird der MIK abgesichert durch den Glauben an seine Systemrelevanz und seine Fähigkeit, eines der wertvollsten Güter der Gesellschaft, nämlich Sicherheit, zu gewährleisten.

Wie sehr der MIK davon lebt, Bedrohungsangst selbst herzustellen, kann an der Dynamik des vierzigjährigen „Kalten -Kriegs“ von 1950 bis 1990 abgelesen werden. Die Darstellung des Kommunismus als eines aggressiven Systems, vor dem nur ständige Hoch- und Nach-Rüstung schützen könne, funktionierte als self-fulfilling-prophecy – ganz unabhängig davon, was der Gegner tat. Die Aktionen des eigenen Systems provozierten immer Reaktionen des anderen Systems und diese rechtfertigten weitere Rüstungen und Bedrohungsphantasien. Da beide Systeme nach demselben Muster arbeiteten, brachte der Rüstungswettlauf die Staaten in ökonomische Probleme. Erst dann wurden Rüstungskontrollverhandlungen begonnen; zugleich erwiesen sich diese Verhandlungen und ihr Ergebnis als Stabilisierung der weltweiten Vorherrschaft der USA. Wie sehr militärischer Apparat, wirtschaftliche Macht und Interessen sowie Öffentlichkeit und Politik in einem durchkomponierten Bedrohungsszenarium die Angst der Bevölkerung aufrechthielten, hat Dieter Senghaas in „Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit“ (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1969, 3. erweiterte Aufl. 1981) unübertrefflich analysiert.

Dass nach der Perestroika nirgendwo im „Ostblock“ Angriffspläne gefunden wurden, wurde nach der deutschen Einigung schnell vergessen. Wäre nämlich die Entspannungslage politisch fortgesetzt worden, dann wäre die Hochrüstung der NATO in Mitteleuropa nicht zu rechtfertigen gewesen. Deshalb begann schleichend der Wiederaufbau einer Bedrohungskulisse, die in der Osterweiterung der NATO praktisch zu einem einstweiligen Höhepunkt führte. Die NATO organisiert ihre Jahrestagungen gelegentlich in Warschau, der Namensgeberin des Warschauer Paktes. Deutlicher kann das Märchen von der „Verteidigungsgemeinschaft“ nicht zum Ausdruck kommen. Es fehlt nicht nur an historisch-politischer Bildung, um die Entwicklung von der Gründung bis zur Gegenwart angemessen begreifen zu können, vielmehr versinken auch die Schulbücher für die aufgemotzte „Staatsbürgerkunde“ in der Anbetung der NATO (vgl. Franz Hamburger: Einübung des hegemonialen Habitus. In: Rudolph Bauer (Hrsg.): Kriege im 21. Jahrhundert: Neue Herausforderungen der Friedensbewegung. Annweiler am Trifels 2015, S. 31 – 59.)

So weit ein paar Worte zum Militärisch-Industriellen Komplex (MIK). Die Verbindung zum Medizinisch-Industriellen Komplex (MedIK) wird mit dem Thema „Angst“ hergestellt.

Die Angst ist der älteste Rohstoff einer jeden Herrschaft. Dies zu formulieren ist keine Neuigkeit. Thomas Hobbes hat in seiner Schrift „Behemoth“ den Naturzustand von Gesellschaft als gnadenlose Gewalt einer jeden gegen jeden beschrieben und die Angst vor dem Terror des Alltags legitimiere den Leviathan, den Staat der Ordnung. Und die Angst vor Aggression und Gewalt ist seit Jahrtausenden eine menschliche Erfahrung. Das Versprechen des Schutzes ist deshalb zur Bedingung von Autorität und Macht geworden. Die Angst vor der physischen Verletzung oder Vernichtung geht möglicherweise den anderen Ängsten um das Leben und Bedürfnissen nach Nahrung, Wohnung und sozialer Bindung voraus. Denn die physische Verletzung zerstört den Bestand des Lebens – in welcher Form auch immer. Es ist ein Verdienst von Franz Neumann (auch ein Autor, der in meinem Studium, aber dieses Mal im Rahmen der „Kritischen Universität“ vorkam), der in seiner Analyse des Nationalsozialismus zeigt, wie die versprochene Herrschaft der Ordnung hinter ihrer Fassade die Herrschaft des täglichen Terrors aufgebaut hat, dass diese Verknüpfung sichtbar wurde.

 Weil physische sowie psychische Handlungsfähigkeit gemeinsam eine wesentliche Komponente der Erhaltung des Lebens darstellen, sind auch die Systeme der Sicherung von Gesundheit und Wohlergehen in der Geschichte der Menschheit zu einem wichtigen Strukturelement der gesellschaftlichen und politischen Verfasstheit des Menschen geworden. Wissenschaftlicher Fortschritt, der der medizinischen Versorgung zugutekam, hat in Schüben des Erkenntniszuwachses bis zur Gegenwart die Medizin vielfach revolutioniert.

Gleichzeitig sind nicht nur die Möglichkeiten des Heilens gewachsen, sondern auch die Erwartungen an die Leistungen der Politik und des Gesundheitssystems. Im Wechselverhältnis von Leistungen des Bürgers für das Versorgungssystem und seinen Erwartungen an die Qualität dieses Systems hat sich eine kontinuierliche Wachstumsdynamik im „System der Sozialpolitik“ ergeben. Im Jahr 2019 wird ein Viertel des Sozialbudgets in Deutschland für Gesundheit ausgegeben. Der „Gesundheitsfonds“ hatte ein Volumen von ca. 222 Milliarden Euro; im Jahr zuvor beliefen sich die Gesamtausgaben für Gesundheit auf ca. 391 Milliarden Euro.  Dieses System ist als Ganzes „systemrelevant“ und komplex strukturiert und nicht zuletzt schwer steuerbar. Genau dies aber beansprucht das politische System zu leisten.

Doch die Herausbildung eines eigenständigen medizinischen Sektors, vor allem einer anerkannten Profession, hat die Macht im Staat diversifiziert, weil die Anerkennung einer eigenlogischen Kompetenz Einfluss bedeutet und das System nur funktioniert, wenn die Eigenlogik der ärztlichen Tätigkeit anerkannt und respektiert wird. Auch die Kliniken sind ein so komplexes Gebilde, dass eine Steuerung von außen wahrscheinlich mehr Ressourcen verschlingt, als im Falle einer Eigensteuerung für die Sicherung des Eigeninteresses verbraucht werden. Die Herstellung und Verteilung von Medikamenten ist ebenfalls professionalisiert und ist eng an den wissenschaftlichen Fortschritt der Forschung gebunden. Deren Freiheit ist aber weder normativ noch funktional einzuschränken.

Das deutsche Gesundheitssystem besteht in einer ersten, sicht- und konkret erfahrbaren Ebene aus den 1.900 Krankenhäusern, rund 150.000 ambulant tätigen Ärzten und Ärztinnen und 28.000 Psychotherapeuten und -innen sowie fast 19.500 Apotheken. Die Interessen dieser Einrichtungen und Personengruppen sind ambivalent: Sie wollen professionelle Autonomie und stabile Finanzierung durch Staat und Sozialversicherung gleichzeitig erhalten. Interventionen von außen werden jeweils so verarbeitet, dass der Nutzen für die eigene Handlungsebene und die Kooperation mit anderen Systemeinheiten erhalten werden. Grundlage der Finanzierung des Gesamtsystems sind die Kranken- und Pflegeversicherungen und die staatlichen Haushalte. Bund und Länder setzen durch Gesetzgebung und auf dem Verordnungsweg den Rahmen für das System, regulieren es aber in Teilbereichen ganz direkt bis in einzelne Arbeitsprinzipien – Beispiel Fallpauschale.

Historisch am bedeutsamsten ist die Ökonomisierung des Gesundheitssystems, d.h. die Kommodifizierung aller seiner Leistungen und die Selbst- und Staatssteuerung mit Hilfe finanzieller Parameter. Während die Produktion von Arzneimitteln schon lange vom Markt besorgt wird, sind nach und nach relevante Bereiche wie die Pflege oder die Krankenhäuser den Regeln eines Marktes von privaten Anbietern unterworfen worden. Im Aushandeln von Kassen und Kassenärzten haben Standardisierungsprozesse eine ähnliche Struktur geschaffen, die Verwandlung der „Niedergelassenen Ärzte“ in Gewerbetreibende haben den Marktprozess beschleunigt und damit die Privatisierung verstärkt. Mit der Delegation von Zuständigkeit und Macht an die Marktakteure hat der Staat sich von manchen Legitimationserwartungen befreit, ist aber in einen „Komplex“ eingebunden, in dem er nicht mehr autonom agieren kann. Im Gegenteil: Die Politik droht zum Anhängsel der anderen Akteure des Komplexes zu werden und gleichzeitig zum Gefangenen ihrer eigenen Versprechungen, die sie zur Aufrechterhaltung von Legitimation ihres Handelns verkündigt. Die Privatisierung unterwirft das Gesundheitssystem zunehmend dem Zwang der Profiterwirtschaftung. Thomas Gebauer schreibt dazu: „Stolz vermeldete der Krankenhausbetreiber “Rhön-Klinikum AG” kürzlich eine Gewinnsteigerung um 15%, der börsennotierte weltweit tätige Medizinkonzern “Fresenius” einen bereinigten Überschuss von 14%, der Pharma-Multi “Bayer HealthCare”, der zuletzt eine eher schlechte Zeit hatte, ein Anwachsen der Gewinne vor Steuern und Abschreibungen um immerhin 12%. Es sind gesunde Gewinne, die aus solchen Zahlen sprechen; Gewinne, die Anteilseignern eine hohe Dividende sichern, aber keineswegs auch eine bessere Gesundheitsversorgung bedeuten“. (Der Medizinisch-industrielle Komplex. Anmerkungen zum Triumph des Lobbyismus. medico-international Rundschreiben 4/2009)

 Damit rückt das Gesundheitssystem systematisch aus der Sphäre der Daseinsvorsorge heraus.

Wie so oft hat die amerikanische Wissenschaft für die Entwicklung des Begriffs MedIK die Voraussetzung geschaffen. „other wiki“ schreibt: „Das Konzept eines ‚medizinisch-industriellen Komplexes‘ wurde erstmals von Barbara und John Ehrenreich in der Novemberausgabe 1969 des Bulletins des Beratungszentrums für Gesundheitspolitik in einem Artikel mit dem Titel ‚Der medizinische Industriekomplex‘ und in einem nachfolgenden Buch (mit Gesundheit) vorgestellt…. Eine aktualisierte Geschichte und Analyse findet sich in John Ehrenreich, ‚Kapitalismus der dritten Welle: Wie Geld, Macht und das Streben nach Eigennutz den amerikanischen Traum gefährdet haben‘ (Cornell University Press, Mai 2016).“ (Quelle: https://de.other.wiki/wiki/Medical%E2%80%93industrial_complex)

Der Begriff des Medizinisch-Industriellen Komplexes wird in Deutschland anfangs nur sporadisch verwendet. Die Zeit Nr. 25/1992 thematisierte den Komplex mit der Botschaft: „Das Gesundheitssystem ist immun gegen alle Reformen. Erst scheiterte Minister Norbert Blüm, jetzt kommt Horst Seehofer dran. Eine mächtige Lobby aus Ärzten, Krankenhausleitern und Pharmamanagern zermürbt die Politik. Geschröpft wird stets nur einer: der Patient: Der medizinischindustrielle Komplex“. 1994 hat Hans Biermann mit seinem Buch „Die Gesundheitsfalle. Der medizinisch-industrielle Komplex“ (Knaur) die Öffentlichkeit erschreckt mit seiner Feststellung, dass die Krankenkassen immer mehr Geld aufwenden müssen, ohne dass die Bevölkerung deshalb gesünder wird. Zehn Jahre später hat Karlheinz Engelhardt nachgelegt mit seiner Untersuchung: „Der medizinisch-industrielle Komplex: Ethische Implikationen“ (The medical-industrial complex: an ethical challenge). Für das Jahr 1994 wurde angenommen, dass in den USA 100000 Todesfälle durch medikamentöse Nebenwirkungen eingetreten seien. Engelhardt bringt dies in Verbindung mit dem Umstand, dass Ärzte für den Einsatz von Medikamenten vor allem von der Pharmaindustrie informiert werden und deshalb schädliche oder nachteilige Folgen von Medikamenten im ärztlichen Problemhorizont nicht wahrgenommen werden.  Thomas Gebauer hat dann im Rundscheiben von medico international vom Dezember 2009 die Bezeichnung MedIK wieder aufgenommen und vom „Triumph des Lobbyismus“ gesprochen s.o.).

Nach dem Buch von Hans Biermann wurde der Begriff in der öffentlichen Diskussion intensiv aufgenommen und die mit ihm zusammengefassten Phänomene wurden diskutiert. Danach flachte die Debatte wieder ab. Das Buch von Karl Hartmann „Gesundheit und medizinisch-industrieller Komplex“ (Verlag am Park, 2014) harrt noch heute auf seine erste Rezension. Gleichzeitig muss man festhalten, dass der Begriff als Kleingeld in der kontinuierlichen kritischen Auseinandersetzung mit dem Gesundheitssystem und insbesondere mit den Prozessen der Ökonomisierung und Privatisierung verwendet wird. Wie sehr diese Prozesse auch den Verlauf im Corona-Jahr 2020 bestimmen, zeigt die anschließende (knappe) Beschreibung.

Corona – Gesundbrunnen für den Komplex und das Kapital

Eine Folge der versuchten und fehlgeschlagenen staatlichen Steuerung sind die Dynamiken im Corona-Jahr 2020, wobei sich die folgenden Ausführungen nur auf den Bereich der Krankenhausversorgung beziehen. Obwohl die Kliniken insgesamt deutlich weniger Fallzahlen haben, sind die Zuweisungen von Staat und Kassen gestiegen. „Über das gesamte Jahr 2020 gesehen sind die Fallzahlen in den somatischen Kliniken um 13 Prozent, in den psychiatrischen Kliniken um elf Prozent zurückgegangen. In der Spitze bis Ende Mai 2020 waren es rund 30 Prozent. […] Um den Krankenhäusern das Verschieben elektiver Eingriffe das Vorhalten von Kapazitäten für die Versorgung von COVID-Patienten zu ermöglichen, hat der Bund im vergangenen Jahr 10,2 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dies sei maßgeblich dafür gewesen, dass die die ausschließlich stationären Erlöse der allgemeinen Krankenhäuser um 3,7 Prozent, die der psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken um 10,6 Prozent gestiegen seien, heißt es in der Bilanz. Die gesetzliche Krankenversicherung hat den Krankenhäusern 1,7 Prozent mehr ausbezahlt als ein Jahr zuvor.“ (Arno Fricke: Krankenhäuser 2020: Weniger Fälle, höhere Erlöse. In: ÄrzteZeitung  02.05.2021). Gleichzeitig haben die Kliniken ihre Bettenzahl um 5.000 (1,1%) verringert.

Mit dem Krankenhausentlastungsgesetz wurden ein halbes Jahr vorher die Kliniken aufgefordert, für 50.000 Euro pro Bett aufzurüsten und sie wurden von den Pflegepersonaluntergrenzen befreit, so dass ihre Politik in der Beeinflussung der beiden zentralen Variablen „Struktur“ und „Personal“ frei nach betriebswirtschaftlichem Eigennutz flexibel gehandhabt werden konnte. Solche und weitere Eingriffe heben sich auf und erhöhen die interne Steuerungskapazität des privatisierten Kliniksystems, so auf Interventionen von außen reagieren zu können, dass der eigene Nutzen in jedem Fall zunimmt.

Die staatlichen Interventionen verpuffen oder verwandeln sich ins Gegenteil: Mit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz war die die Auslastung der Intensivbetten einer Klinik zum Kriterium der Finanzierung geworden – ein Anreiz die Vorhaltung von Intensivbetten so zu regulieren, dass immer 75% belegt sind. Ein einfacher Weg: Die Verfügung über solche Betten über das Personaltableau zu reduzieren, wenn die Corona-Patienten fehlen. Wird das Vorhalten von Intensivbetten belohnt, werden sie tatsächlich vermehrt und auch zu 75% beleget – mit welchen Fällen auch immer. Wird nur das belegte Intensivbett finanziert, wird die Zahl der Intensivbetten zurückgefahren, bis die optimale Relation von Finanzierung und Belegung hergestellt ist.

Die unter dem Zwang öffentlicher Legitimation mit Kurzzeitwirkung induzierten Innovationen erweitern tatsächlich die klinik- oder klinikkonzerninternen Reaktionsmuster auf den politischen Aktivismus so, dass am Ende ein Wachstum des medizinisch-industriellen Komplexes herauskommt.

Grundlage der Finanzierung von Kliniken ist das Krankenhausfinanzierungsgesetz, das Gesetz über Entgelte der Krankenhausleistungen und die Verordnung zur Regelung der Krankenhauspflegesätze. Die Feststellung einer epidemischen Lage in 2020 erforderte eine umfangreiche Staatstätigkeit zur Sicherung der medizinischen Versorgung. Das erste „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ enthielt u.a. Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung in ambulanten Praxen, Apotheken, Krankenhäusern, Laboren, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen und in sonstigen Gesundheitseinrichtungen in Abweichung von bestehenden gesetzlichen Vorgaben.

Das „Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (19.5.2020) änderte erneut das Krankenhausfinanzierungsgesetz (Schaffung der Möglichkeit zur Differenzierung der Pauschale nach § 21 Abs. 3 KHG; Anpassung der Ermächtigungsgrundlage nach § 23 Nr. 2 KHG; § 26 Zusatzentgelt für Testungen auf eine SARS-CoV-2-Infektion im Krankenhaus), verlangte also neue Leistungen, stellte dafür die Entgelte bereit und erhöhte die Flexibilität der Kliniken. Das “Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ ist am 19. November 2020 in Kraft getreten. Das Gesetzespaket beinhaltet auch Regelungen für Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser, die Corona-Intensivbetten freihalten. Eigenständig definiert sind das COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz und das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG). Das Jahr 2021 wird dann eröffnet mit dem Krankenhauszukunftsgesetz für die Digitalisierung, mit dem drei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden.

Die ausschnitthaft berichteten gesetzlichen Änderungen sind natürlich nur die Spitze eines Eisbergs der Regulierung. Verordnungen und Änderungen von Verordnungen bilden den Eisberg unterhalb der Sichtebene der Wasseroberfläche. Gesetzesänderungen und Verordnungen demonstrieren einerseits die Relevanz staatlicher Rahmung des Gesundheitssystems, die Hektik der Veränderung signalisiert die Abhängigkeit von der Reaktionsfähigkeit des privatisierten und teilweise durchaus noch in der kommunalen und wohlfahrtsverbandlichen Zuständigkeit stehenden Systems. Aber diese Teilsysteme, in der Tradition der Daseinsvorsorge stehenden Systemelemente müssen zur Bestandserhaltung sich den allgemeinen Regeln unterwerfen und ökonomisch den Bestand sichern. Die Zahl der Krankenhäuser in Deutschland ist seit Jahren rückläufig. Waren es 1991 noch rund 2.400 Einrichtungen, zählt das Statistische Bundesamt aktuell noch 1.925 Kliniken. Die privaten Träger konnten dabei ihren Anteil von 21,7 Prozent der Häuser im Jahr 2000 auf rund 37,5 Prozent im Jahr 2018 ausbauen. Die Warnung vor einer Überlastung der Kliniken war im ganzen Coronajahr eine der wichtigsten Begründungen für die restriktiven staatlichen Maßnahmen. Die Kliniken haben in diesem Jahr ihre Bettenkapazität um 1,1 Prozent verringert, was etwa 5000 Betten entspricht.

Abschließende Bemerkungen

Die Begriffe MIK und MediK sind nicht scharf von anderen Konzepten abgegrenzt. Die für moderne Gesellschaften typische Differenzierung in „Sphären“ oder „Systeme“ oder „Funktionsbereiche“ oder „Handlungslogiken“ wird nicht aufgehoben, aber so verschränkt („lose gekoppelt“), dass ein sinnhaft erfassbarer Zusammenhang entsteht. Die Komplexe erfassen gleichzeitig systemische, funktionale, rechtliche und Marktbeziehungen. Diese Beziehungen werden von Personen und Organisationen genutzt und „prozessiert“. Die Nutzung geschieht stets unter dem Gesichtspunkt der Interessendurchsetzung und schließt widerrechtliche Ausnutzung ein. Korruption und Bereicherung sind also Phänomene, die mit „Komplexen“ stets verbunden sind. Skandale sind deshalb kein überraschendes Phänomen. Dass dabei phantasievolle Erklärungen im Stil von Verschwörungstheorien verwendet werden, ist ebenfalls zu erwarten.

Gleichzeitig aber sind solche in der privaten und öffentlichen Kommunikation verbreiteten Über-Interpretationen völlig überflüssig. Denn die evidenten Informationen über die Abläufe sind weitgehend öffentlich zugänglich, erfordern aber im Einzelfall oft einen erheblichen Aufwand an Recherche. Ein klassisches Beispiel aus dem MIK war die Starfighter-Affäre, in der der Streit um die Eignung eines Flugzeugs unter Militärs, die Entscheidung eines Ministers, die regionalen Interessen der Rüstungsindustrie, nationale Präferenzen von Regierungen für ihre Rüstungsindustrie und die Bestechungspraktiken des Lockheed-Konzerns miteinander vermischt wurden. Ein aufwendiger Untersuchungsausschuss des Bundestags konnte einiges davon klären. Möglich war die Skandalisierung des Vorgangs aber nur nach erheblicher journalistischer Recherchearbeit. Offen bleiben jedoch in der Regel die tatsächlichen Zusammenhänge zwischen bestimmten Vorgängen, so dass die Komplexe, auch weil sie mit erheblichen Geldsummen ausgestattet sind, immer Kritik und Verdacht gleichzeitig ermöglichen. Zur Untersuchung kann dann wieder auf die Analysetradition seit C. Wright Mills zurückgegriffen werden.

Dennoch ergeben sich Chancen für Personen sich im offenen Wachstumsbereich des Komplexes zu bereichern. So hat eine ganze Riege von Politikern der CDU/CSU sich an der Lösung von Beschaffungsproblemen von Schutzmasken im Jahr 2020 zum eigenen Nutzen beteiligt und bedient. Die schon fast „normalisierte“ Lobbypolitik eines Abgeordneten, der für seinen Wahlkreis und seine Klientel „etwas herausholen“ will, schlägt in den Phasen der Beschleunigung in Korruption um. Wieder einmal hat die Kabarettsendung „Die Anstalt“ (am 4. Mai 2021) eine sorgfältig recherchierte Darstellung dieser Verhältnisse geliefert.

Nicht untypisch ist der Prozess, der im Jahr 2020 in Deutschland beobachtet werden konnte. Zum einen ist er dadurch gekennzeichnet, dass als Krise definierte Umstände die Formierung eines Komplexes beschleunigen. Politik und bisher abgegrenzte Bereiche geraten unter Handlungsdruck, weil sie selbst die Erwartungen wecken und bestärken, sie könnten die Krise bewältigen. Experimentelle Entscheidungen werden als definitive Problemlösungen etikettiert – sind aber revisionsbedürftig und produzieren erhebliche unerwünschte Nebenfolgen. Gleichzeitig werden politisch die Heilsversprechen dynamisiert. An dieser Stelle kann man auf die „Beschleunigungstheorie“ von Hartmut Rosa zurückgreifen und die Vorgänge des Jahres 2020 genauer analysieren. Geradezu exemplarisch ist der Zeitgewinn durch die extrem rasche Entwicklung von Impfstoffen – einschließlich ihrer Erprobung. Aber der technologische und wissenschaftliche Fortschritt erzeugt zugleich eine Zeitnot, denn die Erwartungen an die technische, wissenschaftlich fundierte Problemlösung erzeugen verstärkten Druck. Die Heilserwartung zum Ende restriktiver, sogar die Verfassungsfreiheiten einschränkender Kontrollpolitik erzeugt Zeitnot und keinen Zeitgewinn. Die „Steigerungsrate übersteigt die Beschleunigungsrate“ analysiert Hartmut Rosa präzise.

Vor allem aber: Da in der Krise der Bedrohung zur Rechtfertigung der Eingriffe des Staates durch die Art der öffentlichen Berichterstattung und die Inszenierung der Politik einschließlich ihrer wissenschaftlichen Beratung eine nicht mehr kontrollierbare Angst, kollektive Hysterie, entstanden ist, können die tatsächlich erreichten Sicherheiten diese Angst nicht mehr bändigen. Denn kein Impfstoff gibt eine lebenslange oder zumindest jahrelange Sicherheit gegen die Virusinfektion, die Kontrolle der Frage, ob eine Person tatsächlich geimpft oder getestet ist, wird zum neuen Fundamentalproblem, für das wieder eine technologische Lösung versprochen und entwickelt werden muss usw. Es steigert sich eine Paradoxie: Die Sicherheit, dass technologische Lösungen nur mit einer begrenzten Wahrscheinlichkeit die Infektionsgefahr einschränken können, erhöht wiederum das Angstpotential, vor allem bei bestimmten Gruppen, z. B. bei denen, die sich um kleine Kinder kümmern. Die Menschen müssen ständig die Erkenntnis verarbeiten, dass es keine absolute Lösung gibt, aber gleichzeitig so fest an die Wirkung einer vorläufigen Lösung glauben, dass sie alle Regeln einhalten. Aber warum sollten sie das tun, wenn es doch keine absolute Lösung gibt? Eine Folge ist dann entweder Anomie, das heißt, man hält sich nicht oder, wenn es opportun ist, nur begrenzt an Regeln oder man hält hysterisch an Regeln fest, auch wenn sich dies rational nicht mehr begründen lässt.

Das zweite Merkmal der Herausbildung eines Komplexes ist die Erweiterung der Handlungsebenen um transnationale Institutionen. Die Beschaffung von Impfstoff gegen den „Corona-Virus“ wurde auf die Ebene der EU verlagert, weil ein inner-europäischer Wettbewerb die noch vorhandene Reputation der EU vollständig beseitigt hätte und weil es um die Konkurrenz zwischen den ökonomischen Machtblöcken der Welt ging, in der die einzelnen europäischen Staaten nur eingeschränkt konkurrenzfähig gewesen wären. Der Wettbewerb hat sich innerhalb der EU und global auf die Ebene unterhalb der öffentlichen Kommunikation verlagert. Doch selbst die Verlagerung der Entscheidung auf die mächtigere europäische Ebene kann den Machtzuwachs der internationalen Impfstoffproduzenten nicht kompensieren. Lediglich die Aufhebung von Regeln der Patentsicherung erscheint den Staaten, die Recht setzen können, als Mittel zur Regulierung der Konzerne denkbar – aber sie setzen auch dieses Mittel zur Systemkonkurrenz ein: Nachdem die USA den Export von Impfstoff verhindert haben, die eigene Bevölkerung einen guten Impfstatus erreicht hat und Indien solchen Stoff braucht, dient die Androhung, die Patentrechte aufzuheben, der Strategie in der Systemkonkurrenz, Indien gegen den wachsenden Einfluss Chinas in Stellung zu bringen. Außerdem ist es eine billige Methode, die Sympathie der armen Staaten in der WHO wieder zu erhalten. Heuchelei allenthalben.

Ein drittes Merkmal bei der Herausbildung des MedIK auf einem neuen Entwicklungsniveau ist wie beim MIK im Kalten Krieg der gesellschaftliche Konsens (Regierung, Wissenschaft, zivilgesellschaftliche Organisationen, Medien) über die Problemdefinition und die Problemlösung. Insbesondere die Medien, darunter die Öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten und vor allem die überregionalen Zeitungen, definieren den Korridor, innerhalb dessen die gesellschaftliche Diskussion legitimerweise verlaufen darf. Kritische Stimmen werden früh ausgesondert, abgedrängt und schließlich diskriminiert und diskreditiert.  Unterschiedliche Auffassungen werden dabei zu einem angeblichen Meinungsblock zusammengebunden und schließlich kriminalisiert. Kritik an den staatlichen Maßnahmen wird als Fundamentalkritik umgedeutet und damit an den Rand des Akzeptablen gedrückt. Wissenschaftliche Studien zur Wirkungslosigkeit der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung bzw. zu ihrer beschränkten Wirkung, die den Maßnahmen die Legitimation entziehen, werden nicht zur Kenntnis genommen oder an absoluten Maßstäben so gemessen, so dass sie am common sense abprallen. Aus dem System selbst kommen in den Leitmedien nur diejenigen zu Wort, die Alarmmeldungen anbieten. Das dient der Rechtfertigung politischer Kontrollstrategien, dem Faktor Alarmismus der Medien, die um Wahrnehmung kämpfen, und der Ressourcenmobilisierung des MedI-Komplexes. Medizinisch-ärztliche Differenzierungen der Situation haben wegen ihrer geringeren Lautstärke keine Chance, gehört zu werden. An diesem Punkt ist die Übereinstimmung mit der Dynamik des MIK im Kalten Krieg besonders stark. Schon für dem MIK der NATO hatte „Die Anstalt“ 11.5.2014 analysiert, wie die Redaktionsstuben der überregionalen Medienorgane zu „nationalen Niederlassungen der NATO-Pressestelle“ geworden waren.

Angesichts privater Entscheidungen über Investitionen scheint der Politik, also der Regierung eines Landes, nichts anderes übrigzubleiben, als großzügig Forschung und Produktion eines Impfstoffs und vor allem der neuen Technologien für die „Kultur des ewigen Lebens“ zu unterstützen und die Instrumente der staatlichen Finanzierung von Forschung, deren Ertrag dann privat angeeignet wird, verstärkt einzusetzen. Der Koalitionsvertrag für das Land Rheinland-Pfalz aus dem Mai 2021 beginnt mit der Verheißung: „In der Corona-Pandemie war Rheinland-Pfalz die Apotheke der Welt. Der Impfstoff von BioNTech basiert auf einer weltweit neuartigen mRNA-Technologie. Diese individualisierte Therapie kann der Schlüssel zur Überwindung schwerer Krankheiten, wie Krebs, Multiple Sklerose oder Diabetes sein. Wir wollen das Momentum der weltweiten Sichtbarkeit des Wissenschafts- und Biotechnologiestandortes Mainz insbesondere durch die Erfolge der Firma BioNTech nutzen, um schnell und zielgerichtet die gesamte Wertschöpfungskette am Standort dauerhaft zu sichern und zu erweitern. Rheinland-Pfalz soll zum führenden Standort für Biotechnologie ausgebaut werden. Gemeinsam mit der Stadt Mainz, der Universität Mainz, der Unimedizin und weiteren Akteuren werden wir die verschiedenen Maßnahmen bündeln. Ein:e Koordinator:in der Landesregierung für Biotechnologie wird zentrale:r Ansprechpartner:in für alle Akteure sein.“ (Die geschlechtergerechte Formulierung ist beeindruckend korrekt.)

Biontech residiert in Mainz in der Straße „An der Goldgrube“. In den ersten drei Monaten des Jahres 2021 hat die Firma einen Gewinn von 1,13 Milliarden Euro verzeichnet. Die Aktionäre erhalten bald Geld. Denn die Stadt, das Land und die Universitätsmedizin werden alles tun, was biontech wünscht. Und die Wissenschaftler, die Politiker und die Journalisten werden weiterhin zur Straße „An der Goldgrube“ pilgern und den Bitt- und Lobgesang anstimmen „St. Biontech, sorge für uns!“. Mainz wurde im Mittelalter als „Aurea Moguntia“, als das „Goldene Mainz“ bezeichnet. Der Mainzer Erzbischof trug den Titel “Erzbischof des Heiligen Stuhls von Mainz”, den ansonsten nur der Bischof von Rom trägt. Gleichzeitig erhielt der Mainzer Bischof den Titel eines Reichskanzlers. Wo Gold ist, kommt Gold drauf.

Methodische Schlussbemerkung

Die Quellen für einige Aussagen sind in diesem Beitrag angegeben, andere sind leicht zu finden. Wenn Daten berichtet werden, so stammen sie aus regierungsamtlicher Quelle oder anerkannten wissenschaftlichen Studien. Auf die Einzelnachweise habe ich verzichtet. Es geht bei einem solche Text nicht mehr um die Zahl der Anmerkungen, erst recht nicht darum, Quellenhinweise „in den Text hineinzuschaufeln“ – wie mein früherer Mitarbeiter Dr. Manfred Wöbcke zu sagen pflegte. Ich selbst kann dazu ein ambivalentes Verhältnis pflegen, denn in dem Berufungsvorschlag, der meiner Berufung an die Universität Mainz zugrunde lag, war ausdrücklich als Qualitätsmerkmal hervorgehoben worden, dass in meiner Dissertationsschrift 1.500 Anmerkungen verzeichnet seien. Fleiß lohnt sich.

Quelle:

 

31.5. 2021 http://politeknik.de/p12509/

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Krieg gegen die Kinder

Franz-Xaver Kaufmann, der Bielefelder Soziologe, war nicht für wilde Thesen bekannt. Vielmehr gehören seine Schriften zur Familie, zur Soziologie der Sicherheit und der Sozialpolitik und zur Religion zu den solidesten Analysen dieser Disziplin. Doch 1980 veröffentlichte er einen Aufsatz mit dem Titel „Kinder als Außenseiter der Gesellschaft“ (Merkur Nr. 387). Der Titel war nicht mit einem Fragezeichen versehen und die kurze Einleitung referierte durchaus Befunde dafür, dass es Kindern gut gehe wie nie zuvor. Aber die Struktur der modernen Gesellschaft dränge Kinder an den Rand, weil die Regeln der Gesellschaft für Berufstätigkeit und Freizeit, Mobilität und Konsum eine Lebenswelt hervorbringen, in der Kinder schlicht stören.

Die Stellung des Kindes in der Konsumwelt als strahlendes Vorzeigemodell lässt übersehen, dass das Kind möglichst umfangreich in den Einrichtungen der Fürsorglichkeit behütet wird und niemand in die Quere kommt. Der Widerspruch zwischen einer Glorifizierung des Familienlebens als der „Gegenwelt“ zum gehetzten Berufsalltag und seiner faktischen Marginalisierung zwischen Berufstätigkeit der erwachsenen Familienmitglieder, Mobilitätsaufwand, Freizeitzwängen und Konsumforderungen bleibt hinter den Bekundungen der symbolischen Familienpolitik verborgen. Familienromantik und die Ökonomisierung der Biografien lassen sich nur gestresst vereinbaren. Die Familienpolitik wird wortreich geführt, die Benachteiligung der Familien mit Kindern dadurch eher verschleiert. „Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik ist rücksichtslos gegenüber Familien mit Kindern" – so die Zusammenfassung von Kaufmann.

Neben der aufgedeckten strukturellen Familienfeindlichkeit hat die Stadtsoziologie über Jahrzehnte empirisch gezeigt, wie mit jedem zusätzlichen Autoparkplatz ein Spielraum für Kinder verschwindet. Verzweifelt hat das Deutsche Kinderhilfswerk 2019 „Schluss mit der kinderfeindlichen Stadt- und Verkehrsplanung“ gerufen, nachdem eine erneute Studie nachgewiesen hatte, dass die Straße vor der Haustür den Fernsehkonsum verdoppelt und die Fettleibigkeit der Kinder erhöht. Denn Eltern haben Angst, ihr Kind allein über eine intensiv befahrene Straße zum Spielplatz gehen zu lassen. Wenn die Wegeplanung aber auf die Bedürfnisse von Kindern und Eltern – und genauso auch von älteren Menschen – keine Rücksicht nimmt, verändern sich die Entwicklungsbedingungen der Kinder gravierend. „In Gebieten mit schlechter Wohnumfeldqualität kommt es demnach bei vielen Kindern zu einer sozialen Entwicklungsverzögerung.“ Und das sind Befunde, bevor das Virus kam.

Für Kinder wird, historisch gesehen, immer mehr gemacht, organisiert, angeboten und gefordert. Die fürsorgliche Belagerung des Kindes in der öffentlichen Diskussion und in spezialisierten Diensten für Kinder, bis hin zu Anlaufstellen des Schutzes und eigenen Partizipationsprojekten, können nur mühsam die Struktur verdecken, die den Ausschluss von Kindern aus der Welt der Erwachsenen beschleunigt. Und das Klagen über die Kinderfeindlichkeit gehört ebenso zu diesem Widerspruch, denn das moralische Selbstverständnis der Gesellschaft hält die Kinderfreundlichkeit hoch. Je mehr die Werte der Kinderfreundlichkeit betont werden, umso unsichtbarer wird die tatsächliche Ungerechtigkeit zwischen den Generationen. Die Stiftung für Zukunftsfragen hat 2007 demoskopisch ermittelt, dass Deutschland in Europa als das kinderfeindlichste Land eingeschätzt wird. War 1999 noch für 22% der Befragten in Deutschland die Kinderfeindlichkeit ein ernsthaftes Problem, so stieg diese Einschätzung bis 2007 auf 40%. Die Bevölkerung nimmt also sehr wohl diese Dynamik wahr und lässt sich durch den Schein der Kinderwerbung nicht täuschen. Die in die Medien gelangenden Erfahrungen von Eltern tragen zu diesem Wandel in der Problemwahrnehmung erheblich bei. Ein „Eifelphilosoph“ hat im „Nachrichtenspiegel“ vom 27.5.2015 die alltäglichen Berichte und die Daten zur Kinderarmut unter dem Titel „Kinderfeindlichkeit – Deutschlands Krieg gegen die eigenen Kinder“ zusammengefasst.

Doch angesichts der Erfahrungen mit Kinderarmut, Generationenkampf in der Klimapolitik und schließlich während der Pandemie erscheinen diese Problemanzeigen wie Symptome einer Epoche des kalten Friedens. Die Gegenwart hat zentrale Entwicklungen verdichtet. Das zeigen die Daten zur Kinderarmut und zum Versuch, die Klimafolgen auf die Zukunft der Kinder abzuwälzen, und schließlich auch der Schutz der Erwachsenen vor den Kindern in der Coronakrise – mit verheerenden Folgen, wie inzwischen klar ist. Die Rede des „Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte“ von einer „Triage“ in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der von der „Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie“ widersprochen wurde, ist Hinweis auf eine zugespitzte Situation – aus zwei gegensätzlichen Perspektiven wahrgenommen.

Dass Kinderarmut in Deutschland ein erschreckendes Niveau erreicht hat, ist inzwischen Standard der öffentlichen Diskussion. Kinderschutzbund und Kinderhilfswerk, Parität und Unicef, Bundesjugendkuratorium und Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung, Armutsberichte der Regierung, Kinder- und Armutsberichte der Bundesländer, Enquetekommissionen und OECD-Analysen rufen alle paar Monate so laut, dass sich die Ohren schon lange geschlossen haben. Einmalzahlungen für besonders Betroffene, für Familien und Alleinerziehende verschärfen das Problem, denn die strukturell zuverlässige Lösung der elementaren Kindergrundsicherung scheint durch dieses Alibi entbehrlich zu werden. Aber: 2,8 Millionen Kinder wachsen in Armut auf. Die Zahl bewegt sich seit Jahren auf diesem Niveau; die Zahl der armutsgefährdeten Kinder steigt. Die Armutsberichte aber werden umfangreicher, die Beschönigungen wortreicher und die Chancen, arm zu bleiben, haben sich in 30 Jahren von 40 auf 70 Prozent vergrößert.

Es war das Bundesverfassungsgericht, das die Regierung und das Parlament bremsen musste beim Versuch, den Hauptteil der notwendigen und einschneidenden Maßnahmen gegen die weitere Klimaerwärmung auf die Zukunft der heutigen Kinder und Jugendlichen zu verschieben. Der Beschluss des Gerichts vom 24. März 2021 stellte fest, dass die Schutzpflicht des Staates auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen, enthalte. Die Schutzverpflichtung gilt auch in Bezug auf künftige Generationen, also auch für das Leben der heutigen Kinder und Jugendlichen. Doch auch mit den schnell angekündigten Verschiebungen der Klimaziele in die Zeit vor 2030 wird voraussichtlich nicht erreicht, was das Gericht vorgibt. Es sollen nämlich bis 2030 alle jetzt möglichen Maßnahmen ergriffen werden, damit die Freiheitsrechte der heute lebenden Kinder und Jugendlichen in ihrem Erwachsenenleben gewahrt bleiben. Kurz nach dem Motto: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, vor allem dann nicht, wenn für die, die morgen leben, durch die Verschiebung Schaden entstünde. Die Treibhausgasemissionen werden freilich weiterhin zu einem erheblichen Teil auf eine Zukunft verschoben, in der die Dynamik der Erwärmung weniger beeinflusst werden kann als in dem fraglichen Zeitraum bis 2030. Trotz Gerichtsentscheidung geht die ausbeuterische Lebensweise der Erwachsenen heute weiter.

Die christlichen Parteien, theoretisch dem Schutz der Schöpfung verpflichtet, haben gerade Einschränkungen trivialer Art, wie die Tempobegrenzung auf Autobahnen, verhindert. Der vermeintliche Auftrag, sich „die Erde untertan zu machen“, wird von ihnen besonders rabiat gegenüber der Umwelt durchgesetzt. Und sie halten an den Verhandlungen über das internationale Abkommen mit „Mercosur“ fest, obwohl klar ist, dass es eine Forcierung der Umweltzerstörung durch Pestizide, der Rodung von Urwäldern und des treibhausgasproduzierenden Welthandels bedeuten würde. Das „christliche“ Selbstverständnis der brasilianischen Regierung bei ihrer Politik der Plünderung und Zerstörung des Landes ist ohnehin ein erstaunliches, aber in der Tradition des „Kontinents mit offenen Adern“ vertrautes Phänomen.

Wenn bisher schon, im Blick auf Verdrängung durch Auto und Stadtplanung, anhaltende Armut und gravierende soziale Ungleichheit sowie Zukunft verhindernde Klimazerstörung, von „Kinderfeindlichkeit“ gesprochen werden konnte, so ist die Bezeichnung „Krieg gegen die Kinder“ in der Pandemiepolitik nicht mehr zu vermeiden. Als zentral haben sich die Entscheidungen zu Schulschließungen erwiesen. Sie haben die Struktur des Kinderlebens existenziell verändert und die Möglichkeiten, die prinzipiell erst den Status von Kindheit bestimmen, nämlich sich auf eine selbstbestimmte Zukunft vorbereiten zu können, reduziert. Es ist unbestritten, dass es eine starke Einschränkung des Lernens und der sozialen Einbindung gegeben hat und dass diese Einschränkung nicht einfach wieder zum Verschwinden gebracht werden kann. Die Folgen sind für die sozialen Schichten und Altersgruppen unterschiedlich, aber deshalb insgesamt nicht weniger folgenreich.

Von Anfang an haben unzählige Studien gezeigt, dass Kinder auf das Virus anders als Erwachsene reagieren, dass ihre Betroffenheit von Ansteckung, Krankheit und Tod wesentlich geringer ist, dass sie eher von Erwachsenen „bedroht“ werden als umgekehrt. Die Schulen waren kein hotspot; wo sie nicht geschlossen wurden, gab es keine höheren Infektionen. Wo es Infektionen gab, wurden sie zu einem hohen Anteil überhaupt nicht bemerkt. Dennoch wurden Schulen in einem ungleich stärkeren Maße geschlossen als beispielsweise Betriebe; bei diesen wurden nur die absoluten hotspots vorübergehend dicht gemacht. Kinder und ihr wichtigster Lebensort außerhalb der Familie wurden von den Einschränkungen der CoronaPolitik am stärksten getroffen. Die Schulen wurden geschlossen, um die Erwachsenen vor den Kindern zu schützen, obwohl diese nicht „gefährlich“ waren. Dass alle Lehrerverbände sich für diese Schulschließungen ausgesprochen haben, mag als bornierte Interessensvertretung verstehbar sein. Dass es aber kaum Pädagogen und Pädagoginnen in Deutschland gibt, die laut ihren Willen artikuliert haben, Kinder unterrichten zu wollen, ist ein Armutszeugnis. Die „Ersatzlösungen“ wurden vielfach nicht einmal realisiert, Unterricht wurde in ein Problem der Digitalisierung verwandelt: Information wurde an die Stelle von Lernen gesetzt, Instruktion an die Stelle von Unterricht, Mails und Videoschaltungen an die Stelle der sozialen Form der Bildung. Sozialisation und Bildung, Selbstentwicklung und sozialer Habitus entstehen in der sozialen und zugleich personalen Interaktion. Die Energie für die soziale Interaktion kommt dabei nicht von außen, sondern aus der Interaktion selbst. Fehlt sie, dann wird auch der Wille zur Interaktion schwächer. Die Lustlosigkeit am häuslichen Lernen steigert sich selbst. Nur wer strebsam den Antrieb zur Leistung verinnerlicht hat, treibt sich selbst voran.

Ebenso hemmungslos wie die Propagierung und Praxis der Schulschließungen breitet sich im Frühjahr 2021 das Verlangen nach Impfungen von Kindern aus. Jetzt kommt die „Herdenimmunität“ wieder ins Spiel, aber nicht als Folge dessen, dass die symptomfreien Infektionen mit der Bildung von Abwehrkräften bei Kindern zu tun haben. Kinder repräsentieren vielmehr die Lücke, die es zu schließen gilt, damit alle wieder am Wochenende sich im Restaurant bedienen lassen oder wieder unbegrenzt reisen können. Kritische Einwände, die auf den Charakter der „Notfreigabe“ für alle Impfstoffe verweisen, werden als Störungen der bekannten Bedenkenträger eingeordnet. Während die Probleme nach den Impfungen, statistisch noch nicht signifikant, verdrängt werden, wird schon die nächste Impfwelle vorbereitet. Was sie bei Kindern bewirken wird, ist unklar. Wird die Immunität von Kindern gestärkt oder geschwächt? Werden die Menschen schon mittelfristig von permanenten Impf-Wiederholungen abhängig? Die technologischen Heilsversprechen lassen keine Pause zu. Statt Zeitgewinn dadurch, dass neue Technologien neue Möglichkeiten schaffen, entsteht Zeitnot, um möglichst rasch „Lücken“ zu schließen – koste es, was es wolle. Hartmut Rosa hat in seinem Buch über „Beschleunigung“, den Grundimpetus moderner Gesellschaften, diese Paradoxie analysiert. Die Verbindung von produktiver Forschung, die neue Möglichkeiten erfindet, und Politik, die Heilserwartungen erzeugt und ständig neue Legitimationen für ihr unvollkommenes Handeln hervorbringen muss, erzeugt die Spirale der Steigerung von Durchregulierungen. Die nächste Stufe ist die Impfung von Kindern, an die vor einem Jahr noch kein Mensch gedacht hat. Auch wenn wir nicht wissen, was die Impfung in der Konsequenz bedeutet, wird sie durchgesetzt – auch mit der Zustimmung eines großen Teils der Bevölkerung.

Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik in Magdeburg, hatte schon im Juni 2020 als Ergebnis seiner Studie „Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement?“ festgehalten, dass die politischen Entscheidungen und Maßnahmen in der Coronakrise „völkerrechtsverstoßend und bundesgesetzwidrig ohne vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls“ vorgenommen wurden. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung vom März 2021 festgestellt, dass auch dann, wenn nur belastbare Hinweise bestehen, die Schutzverpflichtung des Staates eintritt. Dieser Grundsatz gilt selbstverständlich für alle Eingriffe in gesellschaftliche Abläufe und Zusammenhänge: „Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge, schließt die durch Art. 20a GG dem Gesetzgeber auch zugunsten künftiger Generationen aufgegebene besondere Sorgfaltspflicht ein, bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen zu berücksichtigen.“ Dieser Grundsatz gilt aber auch für die individuelle Lebensperspektive. „Subjektivrechtlich schützen die Grundrechte als intertemporale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft.“

Zu prüfen ist freilich, ob durch die Vernachlässigung „belastbarer Hinweise“ in der Gegenwart doch größere Schäden in Zukunft verhindert werden können. Deshalb sind die tatsächlich eingetretenen Folgen der Pandemie für Kinder zu beachten. Dazu gehört sicherlich der Umstand, dass Kinder im Zusammenhang mit dem Virus gestorben sind. Während der Pandemie sind aber 12 Todesfälle bei Kindern unter 10 Jahren registriert werden – das entspricht gerade mal rund einem Zehntel Promille aller labortechnisch bestätigten Todesfälle. (J. Berger, NachDenkSeiten 18.5.2021) Ist dies ein hinreichender Grund für die Impfung von Kindern im Rahmen einer „Notzulassung“ mit einem neuen Impfstoff? Das Bundesverfassungsgericht jedenfalls hängt die Latte hoch und verlangt, dass auch zukünftig noch Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte, und gerade der Rechte von Kindern und Jugendlichen, ergriffen werden können: „Die Herausforderung liegt nicht darin, zum Schutz der Grundrechte regulatorisch mit Entwicklung und Erkenntnis Schritt zu halten, sondern es geht vielmehr darum, weitere Entwicklungen zum Schutz der Grundrechte regulatorisch überhaupt erst zu ermöglichen.“ (25.5.2021)

 Juni 2021

https://www.paedagogik-und-politik.eu/padpol-padagogisch-nachgedacht.html

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Wikimedia Commons: Jan Steen - The Village School (National Gallery of Ireland)

An einem Tag im Dezember

Manchmal reicht es, einige Sätze aus der täglichen Flut von Texten heraus zu greifen, um einen bedeutsamen Wandel zu markieren. Die Vervielfältigung von Informationen, die Vervielfachung der Medien, mit denen täglich, besser: minütlich, kommuniziert wird, die der Konfusion dienenden talkshows und viele andere Eindrücke verdunkeln den Horizont dessen, was für die Menschen und die Menschheit wichtig ist. Die Überinformation verhindert Informiertheit und die Fähigkeit, Ordnung in einem Bild der Welt zu gewinnen. Dies ist sehr nützlich für jede Form der Herrschaft und für jeden neuen Konsum. Neue Fortschrittsmythen lassen schnell die gestrigen Heilsversprechen vergessen. „Die Impfung“ als Verheißung des Heils gerinnt zur billigen Vertröstung angesichts ihres Verfallsdatums.

Bevor das Nachdenken über diesen Prozess beginnt, wird der Ansatz einer selbständigen Urteilsbildung diskreditiert, die aufkommenden Einwände und Bedenken werden brachial zur Seite geräumt. Dazu reicht nicht ein einmaliger Akt, denn im Rauschen der Informationen stecken immer wieder Formulierungen des Zweifels. Deshalb werden täglich die Richtigstellungen eingestreut und abweichende Gedanken verdammt. Aber auch diese Rhetorik nützt sich ab. Sie bedarf der Steigerung, zum einen der anhaltenden Wirksamkeit wegen, zum anderen um weitergehende Zielvorstellungen zur Geltung zu bringen. Ein Paradebeispiel für diese Dynamik ist die kriegstreiberische Agitation gegen Russland, seit Jahren die Expansion der NATO und die permanente Aufrüstung des Westens legitimierend.

In der Süddeutschen Zeitung vom 3.12.2021 kann man auf der Seite für die Indoktrination auch einen solchen Kommentar lesen. Aber dieser soll an dieser Stelle nicht interessieren. Es geht vielmehr um die Sprache der Corona-Politik, die eine besondere Form angenommen hat. Sie bringt paradigmatisch einen Wandel zum Ausdruck, der die Gesellschaft verändert hat und weiter verändert.

Rhetorisch geschickt wird zunächst ein „Zeitalter der Empfindlichkeit“ beschworen, das Achtsamkeit und Freundlichkeit im zwischenmenschlichen Kontakt mit sich gebracht habe. Dieses harmonisch skizzierte Bild erscheine aber gegenüber der Realität als unwirklich, als „Verkündung der Menschenrechte im Bürgerkrieg“. Die Rhetorik ist in diesem Zugang insofern davon galoppiert, als die Situation mit „Bürgerkrieg“ assoziiert wird, was alle Mittel des Krieges legitimiere. Das bedeutet aber auch, dass die Menschenrechte dann nicht mehr gelten sollen, wenn ein Konflikt den Kriegszustand erreicht hat. Sie wirken lächerlich im Krieg. Genau dies wird ja in den Kommentaren zur Situation an der polnisch-belarussischen Grenze im November 2021 so gesehen, wo die menschenrechtswidrigen push-backs nicht nur die Grenze für die europäischen Menschenrechtserklärungen markieren, sondern dann auch noch der Aggression des belarussischen Systems zugeschrieben werden. Der Dieb ruft gerne „Haltet den Dieb!“.

Der Kommentar befasst sich aber mit der „Politik mit Wumms“ im Kampf gegen die Pandemie. Es geht jetzt gegen den „Kuschelkurs“. Die ansonsten „harte Maßnahmen“ genannten Beschlüsse von Bund und Ländern sollen nun nicht als „Zeichen der Schwäche“, sondern als „entschlossenes Handeln“ gelten. „Die Rücksicht auf Zögernde und Uneinsichtige hat zu lange gedauert“. Präzisiert man die schönen Worte in ihre gegenläufige Bedeutung, so geht es um die Rücksichtslosigkeit der Entschlossenen und der Einsichtigen. Die Fronten sind geklärt.

Zum besseren Verständnis möge die Einleitung des Kommentars von Werner Bartens (SZ, 3.12.21, S.4) zitiert werden: „Im Zeitalter der Empfindlichkeit leben wir. Niemand soll verschreckt werden. Achtsam sein, freundlich sein, nur keine Mikroaggressionen aussenden und niemanden beschimpfen. Diese Empfehlungen gelten allüberall, obwohl sie angesichts der Pöbeleien in den ‚sozialen Medien‘ – aber nicht nur dort – manchmal ähnlich hilflos wirken wie die Verkündung der Menschenrechte im Bürgerkrieg. Angesichts unerträglicher Zustände in den Kliniken hat die Politikjetzt den Kuschelkurs beendet. Nach zahlreichen halbgaren Entscheidungenhaben die Verantwortlichen endlich sich getraut, den Menschen etwas zuzumuten. Und das ist richtig so.“

Am selben Tag (3.12.21) hatte die Bundesregierung auf ihrer Webseite verkündet: „Um die vierte Welle der Corona-Pandemie zu brechen, haben Bund und Länder gemeinsam Maßnahmen beschlossen.“ Die Tagesschau meldet am Nachmittag, dass einige Bundesländer bei den „Verschärfungen nachlegen“. In wenigen Tagen hat sich die Rede vom „Brechen der vierten Welle“ universell ausgebreitet, kein Publikationsorgan verzichtet mehr auf die martialische Formulierung. Es scheint wieder Zeit für „hartes Durchgreifen“ gekommen zu sein. Aus dem Handelsblatt vom 9.11. kommt einem ausnahmsweise die Bewunderung für Italien entgegen, denn dort habe sich „das harte Durchgreifen ausgezahlt“.

Schon im Juni 2021 hatte der „grüne“ Ministerpräsident von Baden-Württemberg postuliert, dass im Pandemiefall die Regierung „härter durchgreifen dürfe“. Und im März 2021 hatte die Bundeskanzlerin für ein „hartes Durchgreifen“ plädiert. Nachdem die Fronten aufgebaut sind, kann die Aggression auf einem höheren Niveau fortgesetzt werden. Es braucht keine Rücksicht mehr genommen zu werden auf einen innergesellschaftlichen Zustand der Gemeinsamkeit. Es geht nicht um Unterschiede, die nebeneinander und gegen einander in einem Ganzen koexistieren können, sondern um Trennung, um Auseinandertreiben der Guten und der Bösen. Die Pandemie rechtfertigt die Apokalypse.

Die Sprache der Politik und der Publizistik erinnern nicht nur an die politische Sprache der Vergangenheit der nationalen Kriege und der Bürgerkriege. Sie ist auch die Sprache einer Pädagogik, die immer wieder aufkommt, und zwar einer Pädagogik der „Zucht und Ordnung“. Gerade der nicht mehr verwendete Begriff der „Zucht“ enthält eine Vorstellung, die heute in moderner Terminologie daherkommt. Wider die „Weicheiner“ richtet sich die Polemik, gegen zu viel Rücksichtnahme auf das Kind, gegen Achtsamkeit und Empfindlichkeit – gerade so wie in dem zitierten Kommentar. Dem Schreckensbild dieser schludrigen Erziehung wird die geordnete Erziehung, die Autorität, die sich nicht schämt, oder die leistungsorientierte Auslese gegenübergestellt.

Die Politisierung der Pädagogik, die in diesen Schlagworten, also Worten, die schlagen, vollzogen wird, hat beispielhaft die AFD im Programm für die Bundestagswahl 2021 formuliert. Im Kapitel „Mut zur Leistung“ heißt es: „Ein leistungsorientiertes, differenziertes Bildungswesen ist die Grundlage unseres Wohlstands und wesentlicher Bestandteil unserer Kultur. Während seit Jahrzehnten jedoch die Abiturientenquote immer weiter steigt, fehlen den Auszubildenden und Studienanfängern grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten. Seit dem PISA-Schock vor 20 Jahren jagt eine Reform die andere, mit ständiger weiterer Absenkung des Niveaus. Die Bildungsstandards aller Schulformen und Bildungseinrichtungen müssen wieder auf das Niveau einer führenden Wissenschafts- und Industrienation gehoben werden.“

Nicht nur Leistungsverlust, Niveauabsenkung oder Billigabitur werden beklagt, es gehört scheinbar auch Mut dazu, ein solches Programm zu vertreten. Diese Selbststilisierung in die Position des beherzten Kämpfers, der Mut braucht, um eine solche Forderung aufzustellen, ist die besondere Form der politischen Agitation. Denn wenn der Eindruck erweckt werden kann, dass nicht nur die Sachverhalte zutreffend beschrieben sind, sondern auch ihre Thematisierung unterdrückt werde, dann ist der widerständige Kämpfer in eine unangreifbare Position gerückt. “Mut zur Erziehung“ war deshalb die Parole der Gegenbewegung zur Abkehr von der autoritären Pädagogik. Die Politisierung der Pädagogik in diesem Sinne einer Re-aktion beruht aber nicht auf „binnen-pädagogischen“ Überlegungen, sondern importiert ein Gesellschaftsbild in die Erziehung. Deshalb ist der Bezug im AFD-Programm auf die „führende Wissenschafts- und Industrienation“ die zentrale Begründung für die Unterordnung des Pädagogischen unter eine leistungsstrukturierte Gesellschaft.

Im Verlauf der Corona-Politik sind nun diese Muster wieder in die Politik zurückgeführt worden, indem der Staat pädagogisch dem Bürger gegenübertreten darf  und soll. So kann gefordert werden, dass der „Kuschelkurs“ zu beenden sei, das „Brechen der vierten Welle“ nur mit „Verschärfungen“ und „hartem Durchgreifen“ gelinge könne. Scheinbar nur gegenüber den sogenannten „Impfgegnern“ oder „Impfverweigerern“ tritt der Staat, mit Billigung des Verfassungsgerichts, als Lehr- und Zuchtmeister auf, sondern gerade auch gegenüber den braven Bürgern, die den Imperativen des Medizinisch-Industriellen Komplexes Folge leisten. Sie werden mit dem Prädikat „vernünftig“ ausgezeichnet und sie merken noch nicht einmal, dass ein Bürger nur selbst über seine Vernunft entscheiden kann. Sie dürfen „Solidarität“ einklagen, wo es nur um die Angst um das eigene Leben geht.

Die Pädagogisierung der bürgerlichen Freiheit, die an ein bestimmtes Wohlverhalten, also gerade nicht nur an die übliche Gesetzeskonformität gekoppelt wird, stellt die Freiheit unter Vorbehalt einer politischen Konformität. Die unendliche Angst um das Leben kann nicht mit Herdenimmunität rechnen. Die pädagogisch erzeugte Herdenkonformität tritt an die Stelle einer bürgerlichen Übereinkunft.

Quelle:

 19.12.2021

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Die vierte Macht unterwirft sich dem Imperium

Medien sind in ihrer großen Mehrzahl nationalstaatlich organisiert. Die Sprache setzt Grenzen. Grenzen weist aber auch die Perspektive auf, in der die Themen der Medien in nationalstaatlich verfassten Gesellschaften präsentiert werden. Auch wenn es teilweise kaum zu bemerken ist, bestimmt der ethnozentrisch gefärbte Blick die Wahrnehmung und Darstellung von Themen und Problemen. Die Medien sind Organe, wie eine Gesellschaft ihr Selbstverständnis artikuliert. Das ist in der Regel implizit und wird in Krisen explizit formuliert. Die Artikulation des Selbstverständnisses, und zwar des dominanten Selbstverständnisses, wird vor allem vorgenommen, wenn es darum geht, andere anzugreifen, vermeintliche Angriffe abzuwehren oder abweichende Meinungen im Inneren der Gesellschaft zu delegitimieren oder zu diskreditieren.

Öffentlichkeit kann als eine Arena verstanden werden, in der verschiedene Akteure auftreten bzw. in der Akteure vertreten werden. Die Arena wird strukturiert von Sprechern und Publikum. Zur Sprache kommt in diesem Forum, wer über Prestige verfügt oder wem Kompetenz zugeschrieben wird. Dies gilt für die verschiedenen Ebenen von Öffentlichkeit von der Encounter-Öffentlichkeit bis hin zu den Massenmedien. Der Zugang zu dieser letzten Ebene ist schmal und begehrt – der Kampf um Aufmerksamkeit ist ein Teil demokratischer Öffentlichkeit. Allerdings sind die Zugänge strukturell vermachtet. Deshalb sind Medien das Organ derer, die über Macht und/oder Geld verfügen, und derer, die sich Prestige und Kompetenz erworben haben. Beispielsweise sind die überregionalen Zeitungen und Journale in Deutschland, die eine besondere Definitionsmacht beanspruchen, Besitz einer Privatperson oder eines entsprechenden Konsortiums.

Die Massenmedien in Deutschland sind besonders strukturiert: den privaten Medien stehen die öffentlich-rechtlichen Anstalten gegenüber. Über diese Anstalten Macht auszuüben ist ein wichtiges Element der Strategie von Parteien. Faktisch regulieren die beiden bisher großen Parteien zusammen mit ihren Einflussagenten in den Rundfunkräten das durch diese Anstalten verbreitete Weltbild. Dieses Bild ist natürlich nicht einheitlich uniform, aber von seinen Größenordnungen her dominant: Minderheiten, besonders gesellschaftskritische Minderheiten kommen zu Wort, so lange sie das dominante Weltbild nicht ernsthaft stören. Gerade in Krisen oder in Phasen, die als Krise „hochgejubelt“ werden, wird dieses Verhältnis sichtbar und wichtig. Die Medien profitieren von jeder Krise, weil sie die Orientierungshilfen und die Problemlösungen versprechen. Die Massenmedien erwecken den Eindruck, dass es um die Existenz der Gesellschaft oder ein zentrales Gut der Gesellschaft geht, und können allein dadurch mit der dominanten Auffassung Loyalität erzeugen.

In den beiden Jahren der Corona-Pandemie war diese Struktur besonders ausgeprägt. Die Regierung konnte sich einer ausgewählten Gruppe von Experten bedienen, die auf ein Reservoir von Erkenntnissen zurückgreifen konnten, das gleichzeitig durch Entscheidungen der Regierung entstanden ist. So konnten Untersuchungen durchgeführt oder verhindert werden. Beispielweise gibt es auch im dritten Corona-Jahr nicht die Untersuchung, die sehr früh schon gefordert wurde, nämlich repräsentativ den Status der Bevölkerung in Hinsicht auf die Infektion mit dem Virus zu untersuchen. So könnten die erforderlichen Maßnahmen auf eine solide Datengrundlage gestützt werden. Doch die Dogmatisierung einer bestimmten Strategie hat nicht nur diese Studie verhindert, sondern auch bestimmte Begriffe mit einem Tabu belegt und abweichende Auffassungen entweder unkommentiert verklingen lassen oder diskreditiert.

Das Besondere der Corona-Jahre besteht darin, dass die wichtigsten Massenmedien auf vollständige Übereinstimmung mit der Regierungsstrategie geschaltet haben. Den Experten mit einer regierungskritischen Expertise stand der Druck und die Macht einer großen Koalition gegenüber. Die Debatten in den talk-shows des Fernsehens erzeugten überwiegend Konfusion. Die Bindung der zunehmend komplexer werdenden Verordnungen zur Regulierung an Kriterien, die auch nur vom staatlichen System kontrolliert werden konnten, erzeugten darüber hinaus einen Zustand der Desorientierung, der der Angst um das Leben und die Gesundheit uneingeschränkte Macht verleiht. Die Gesellschaft versank in Hysterie und Anomie, in der es sich ungestört regieren ließ.

Ähnlich entwickelte sich die öffentliche Meinung in Bezug auf den West-Ost-Konflikt. In einem zwanzigjährigen Prozess der Ausweitung der NATO bis an die Grenzen Russlands und der steten Durchsetzung eines aggressiven Bildes von Russland und seinem Präsidenten konnte schließlich Kriegsbereitschaft erzeugt werden. Auch wenn die Hauptakteure nicht mit Krieg rechnen, so ist der Kalte Krieg außerordentlich erfolgreich. Denn er zwingt zusammen mit der Ausdehnung der NATO Russland zu zweifellos völkerrechtswidrigen Abwehrmaßnahmen, um seine elementaren Bestandsvoraussetzungen zu wahren, und zu Rüstungsanstrengungen, die seine Bevölkerung ungleich mehr belasten als dies in den reichen Gesellschaften des Westens mit ihrer extremen Hochrüstung der Fall ist.

Bemerkenswert ist bei der Öffentlichkeitsstrategie der großen Tageszeitungen, von der FAZ bis zur taz, und der Journale, dass sie sich inzwischen so weit dem Weltbild der NATO, also des einzigen Militärbündnisses in der Welt mit 30 Mitgliedorganisationen, unterworfen haben, dass sie noch nicht einmal mehr nationale oder europäische Interessen im Blick haben. Sie definieren die Situation als einen Konflikt zwischen zwei Ländern, Russland und der Ukraine, und können so den NATO-Zusammenhang geschickt in den Hintergrund rücken. Dass aber die NATO, das wichtige Instrument des amerikanischen Imperialismus, mit ihrer Strategie der Ausdehnung den Konflikt hervorgebracht hat und mit der militärischen Unterstützung der Ukraine anheizt, kann ausgeblendet werden. Ebenso wird unterschlagen, dass die angespannte Situation in der Welt wesentlich dadurch hervorgerufen wurde, dass die USA wichtige Rüstungskontoll- und Abrüstungsverträge aufgekündigt haben. 

Dies führt zu ganz merkwürdigen Konsequenzen. Das Verlangen Russlands, durch bindende Verträge eine Beruhigung der Situation zu erreichen, wird als „Unverschämtheit“ und als „Zumutung“ bezeichnet. Angeblich „pocht“ Russland darauf, dass die Ukraine nicht Mitglied der NATO wird. Würde dies nämlich durchgesetzt werden, geriete das europäische Gleichgewicht der Abschreckung gänzlich ins Wanken, weil die Kalküle Russlands, seine Sicherheit zu gewährleisten, unterlaufen würden. Wenn aber die binneneuropäischen Verhältnisse nicht mehr kalkulierbar sind, und durch den Aufbau von Abschussrampen für Raketen und Marschflugkörper im östlichen Europa sind sie schon unsicher geworden, sind die europäischen Länder, nicht die Vereinigten Staaten, einem erhöhten Kriegsrisiko ausgesetzt. Die Möglichkeit von Verträgen wird madig gemacht, wo sie doch das einzige Instrument der Konfliktreduzierung sind.

Die zweite Merkwürdigkeit besteht darin, dass die Medien mit den „Edelfedern“ die Regierungen anderer Staaten in Stellung bringen gegen die Bundesregierung. Die Schwurbeleien über „Bedenken“ anderer Regierungen, schön diffus ins Blatt gesetzt („das Misstrauen sei groß“, es gehe darum, „klare Kante“ zu zeigen) sollen das Gefühl der Unsicherheit in der eigenen Bevölkerung erzeugen, so dass sie dem „großen Spender“ der Sicherheit, den USA und der NATO, zujubelt. Es fehlen in diesem Stück keine der traditionellen Elemente, mit deren Hilfe eine aggressive Stimmung und Kriegsbereitschaft erzeugt werden kann. Selbst die Stimmen derer, die vor 30 Jahren in Mitteleuropa die deutsche Einigung und ein hohes Maß an Verständigung durch Diplomatie erreicht haben, zählt nichts mehr.

Die rhetorische Eskalation in den Medien, die Umkehr der Bedrohungsverhältnisse, die Diffamierung der Regierung, die Schwurbeleien über die Aggressivität Russlands seit 20 Jahren und das rasche Vergessen-lassen der Kriege des Westens bzw. der NATO-Mitglieder schaffen eine Bedrohungsangst und eine Fokussierung der Aggressivität, angesichts derer die Medien die heilbringende Botschaft verkünden: Es gibt Schutz unter dem militärischen Mantel des ganz großen Bruders.  Und selbst das rationale Kalkül zu nationalen Interessen wird dem Herrn der Weltherrschaft geopfert, der in Weilerbach bei Kaiserslautern das größte amerikanische Krankenhaus außerhalb der USA aufbaut. Er wird wissen, warum.

Nachtrag

Die Zeitungen der „VRM Holding GmbH & Co. KG“ für das Rhein-Main-Gebiet und Mittelhessen veröffentlichten am 31.1.2022 eine Karikatur, in der ein großer hungriger Bär einen kleinen Menschen, mit der Aufschrift „UKR“ auf der Jacke, bedroht. Dieser ruft „Haalooo, Wer kann mir helfen?!!“ Im Vordergrund verstecken sich zwei Gestalten, leicht als Deutscher Michel und Kanzler Scholz erkennbar, hinter einem großen Buch mit der Aufschrift „Deutsche Geschichte 1933 – 1945“., das die Hälfte des Bildes einnimmt und den anscheinend bedrohten Menschen von Unterstützung durch Deutschland fernhält. Diese Karikatur setzt zwei Akzente: Die Ukraine scheint bedroht zu werden und hilflos zu sein; die Bedrohung der Ukraine durch Russland ist die wirksamste Erfindung der Nato, um ihre Macht ausdehnen zu können. Tatsächlich sucht Russland aus Gründen seiner Bedrohung durch die NATO nach einer vertraglichen Regelung, dass die Ukraine nicht Mitglied der NATO wird. Mit der Behauptung, dass die Ukraine angegriffen werde und die deutsche Regierung sich mit dem Hinweis auf den Nationalsozialismus von der militärischen Unterstützung der Ukraine zurückhalte, wird suggeriert, dass es sich um eine ähnliche Situation handle.

 Die Karikatur wird mit dem Titel „Das Versteck“ gelabelt. Tatsächlich wäre Adolf Hitlers Spruch „Seit 5.45 wird zurückgeschossen“ angemessen, um die historische Perversität der Karikatur zu charakterisieren. Denn man kann nur noch zynisch kommentieren, dass damals schon Russland Deutschland angegriffen habe.

Jetzt ist es so weit, die Botschaft lautet: „Der Krieg ist vergessen, die Gräuel des Faschismus sind vergessen, die 27 Millionen Toten in Russland sind vergessen, zeigt klare Kante und nach dem Krieg können wir zu den Ursachen wieder heucheln und lügen. So wie wir Afghanistan die Demokratie gebracht haben.“

Der Text wird von PoliTeknik öffentlich zugänglich gemacht.

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